Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Ereignisse in der Sherpa-Gesellschaft

Ein Leben ohne Uhr und Kalender

Heute haben auch viele Sherpa Uhren, und auch der nepalische Kalender wird immer vertrauter im Alltagsleben. Das war in meiner Jugendzeit noch ganz anders. Damals kannte man weder Uhren noch Kalender. Lediglich die religiösen Feste wurden nach dem tibetisch-buddhistischen Kalender bestimmt, der jedoch nur in den Klöstern bekannt war. Dennoch liefen auch die alltäglichen Dinge das ganze Jahr über in geordneten Bahnen ab. Die Orientierung der Menschen folgte dabei den Anhaltspunkten, die die Natur der Umgebung lieferte.

So war der Tagesablauf einzig und allein durch den Stand der Sonne bestimmt. Ältere Menschen wurden oft auch schon vor Sonnenaufgang wach, da sie von Rückenschmerzen und ähnlichem geplagt wurden und daher nicht länger liegen konnten. Spätestens beim ersten Morgengrauen erhob sich dann auch der ganze Rest der Familie vom Nachtlager. Trockenes Holz wurde aufs Feuer gelegt, falls es über Nacht nicht ausgegangen war. Wenn noch Essensreste vom Vorabend übriggeblieben waren, wurden diese kurz aufgewärmt und gegessen. Ansonsten machte man sich hungrig an die Arbeit. Die erste Tätigkeit war dann, in die Wälder zu gehen und Futter für die Tiere zu besorgen. Dies war meist die Aufgabe der Männer und der älteren Kinder. Wenn die Sonne etwa am höchsten stand, kehrte man nach Hause zurück. Schien die Sonne einmal nicht, so machte meist das überwältigende Hungergefühl darauf aufmerksam, das es Zeit für das Mittagessen wurde.

In der Zwischenzeit hatte die Mutter die Kühe zu melken und die übrigen Tiere zu versorgen. Dann machte sie sich daran, das Essen vorzubereiten, wobei ihr die jüngeren Kinder zur Hand gingen. So mußten die Kinder z.B. das Geschirr mit kaltem Wasser und Erde spülen sowie Wasser und Brennholz holen. Im Frühjahr, wenn die Vorräte allmählich zur Neige gingen, sah der Menüplan meist so aus: Gerste oder Mais wurden von Hand mit der Steinmühle gemahlen, eine äußerst mühselige Arbeit. Das Mehl wurde anschließend auf dem offenen Feuer in Wasser gekocht, ähnlich wie Reis. Wenn das Ganze aufgekocht war, wurde es bei kleiner Flamme ziemlich lange gekocht - jedenfalls kam uns die Zeit immer sehr lange vor. Als Soße wurde entweder eine Brennesselsuppe, eine Art Kartoffelbrei – die Kartoffeln wurden dabei samt Schalen in kleine Stücke geschnitten – ganz selten auch eine Eiersoße oder Dickmilch zubereitet. Während der ganzen Zeit waren natürlich auch noch die kleineren Kinder zu versorgen. Meist waren die Frauen genervt und daher ziemlich schlecht gelaunt, wenn die übrigen Familienmitglieder hungrig aus den Wäldern zurückkehrten.

Alle wuschen sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser – Seife gab es natürlich nicht – und setzten sich um die Feuerstelle. Die Mutter nahm nun Teller und verteilte das Essen. Als erster erhielt immer der Vater das Essen, danach wurde die Reihenfolge entsprechend dem Alter eingehalten, wobei die Mädchen immer zuletzt versorgt wurden. Es bedurfte schon einigen Geschickes der Hausfrau, die Portionen so zu berechnen, daß auch niemand zu kurz kam. Unsere Mutter hatte dies jedenfalls immer sehr gut im Griff. Gegessen wurde, wie es in Nepal üblich ist, mit den Fingern der rechten Hand. Aus dem Mehlbrei wurden kleine Bällchen geformt, in deren Mitte man mit dem Daumen eine kleine Vertiefung drückte. Anschließend wurde das Bällchen in die Soße getaucht, so daß sich etwas Soße in der Vertiefung ansammelte. Wer besonders rasch aß, hatte meist auch noch die Chance auf eine zweite Portion, langsame Esser waren da immer benachteiligt. Auch wenn das Essen heiß war, war es nicht erlaubt, darüber zu pusten, da nach Sherpavorstellung die lha (göttliche Wesen)kommen und den aufsteigenden Dampf zu sich nehmen. Durch das Pusten würde man sie vertreiben. Die einzige Möglichkeit, das Essen etwas schneller abzukühlen, bestand im leichten Schwenken des Tellers. Wir Kinder haben uns aber nicht immer an diese Vorschriften gehalten. Rülpsen nach dem Essen war jedoch selbstverständlich; hiermit wurde zum Ausdruck gebracht, daß das Essen gut geschmeckt hatte.

Wenn noch nicht so viel auf den Feldern zu tun war, pflegte der Vater sich für kurze Zeit zum Mittagsschlaf hinzulegen. Die Mutter setzte sich unterdessen meist etwas vor das Haus in die Sonne, lauste die Kinder oder unterhielt sich mit Nachbarinnen oder mit den Kindern. Die jüngeren Kinder erhielten etwas Popcorn, manchmal auch Erbsenbüschel, und wurden dann losgeschickt, die Tiere loszubinden und zum Fressen und Trinken in die Wälder zu treiben, wobei sie stets darauf zu achten hatten, daß die Tiere nicht auf die Felder liefen, vor allem nicht auf fremde. Außerdem bestand immer die Gefahr, daß die Tiere auf zu steile Hangstücke gingen und abstürzten oder daß sie von wilden Tieren, wie z.B. Wölfen, gerissen wurden. Die Aufgabe der kleinen Kinder war also schon sehr verantwortungsvoll. Die Langeweile während des Tierhütens vertrieben sich vor allem die Mädchen durch das Sammeln von Pilzen, wildem Rhabarber, Brennesseln, jungem Farn und Bambussprossen, die alle einer Bereicherung des Essensplanes dienten. Junge Eichentriebe, die frisch aus dem Boden sprossen, wurden sehr gerne an Ort und Stelle gegessen, da sie einen leckeren milchigen Geschmack hatten.

Doch dies war für die Kinder auch eine Zeit, in der sie sich Spielen widmen konnten. Mangels vorgefertigter Spielzeuge waren der Phantasie dabei keine Grenzen gesetzt. Besonders beliebt waren natürlich Gruppenspiele, an denen sich auch die Nachbarskinder beteiligen konnten. So haben wir besonders gerne an kleinen Gebirgsbächen Dämme gebaut, während eine andere Gruppe weiter unterhalb eine Brücke baute. Wenn diese fertig war, wurde der Damm geöffnet. Falls die Brücke weggeschwemmt wurde, hatte die Dämmemannschaft gewonnen, anderenfalls die Brückenmannschaft. Fast immer aber lernten wir Kinder bei diesen Spielen unbewußt, die Dinge und Kräfte der Natur und den Umgang mit ihnen zu beherrschen. Oft vergaßen wir über das Spielen ganz die Tiere, die wir zu hüten hatten. Diese kannten den Weg zu ihrem Stall meist alleine und waren dann vor uns wieder zu Hause, wenn wir Glück hatten. Vor allem die Kühe, die kleine Kälber zu Hause hatten, fingen irgendwann wie verrückt an zu brüllen und rannten dann nach Hause.

Einmal war uns eine Kuh durchgebrannt, ohne daß wir dies in unserem Spieleifer bemerkten. Erst als wir wie üblich die Tiere vor dem Nach-Hause-Gehen zählten, stellten wir fest, daß eines fehlte. Die Kuh war auf das Maisfeld einer alten verwitweten Frau gelaufen und hatte dort großen Schaden angerichtet. Die Frau erwischte zu allem Überfluß unsere Kuh auch noch und machte bei unserer Mutter ein Höllentheater. Sie stieß schreckliche Flüche gegen uns aus und zählte genau nach, wieviele Maishalme zerstört worden waren. Später, nach der Ernte, mußten unsere Eltern eine entsprechende Anzahl Maiskolben an die alte Frau erstatten.

Wenn die Schatten länger wurden und die Grillen besonders laut zirpten, war es für die Kinder an der Zeit, mit den Tieren nach Hause zu gehen. Die Kühe mußten wieder im Stall angebunden werden. Für die Nacht legten wir den Tieren immer noch etwas von dem Grünfutter hin, das am Morgen vom Vater und den älteren Geschwistern gesammelt worden war.

Unterdessen hatten sich Mutter, Vater und ältere Kinder im Hause oder sonstwo betätigt. Die älteren Kinder gingen beispielsweise in die Wälder, um Bambus zu schneiden, oder aber sie gingen in die Nachbardörfer, um etwas Kleinhandel zu betreiben. Oft arbeiteten sie in dieser Zeit auch für andere Leute, falls dort irgendwelche besonderen Arbeiten anstanden. Im Frühjahr, wenn noch nicht so viel auf den Feldern zu tun war, tranken die Eltern auch gerne etwas chang (Hefebier aus unterschiedlichen Getreidesorten), wozu sich häufig auch Gäste einstellten.

Wenn die jüngeren Kinder hungrig nach Hause kamen, erhielten sie etwas phe (Mehl), auf dem Ofen geröstetes Mehl, das in Buttermilch oder chang angerührt und kalt gegessen wurde. Manchmal warfen wir auch ein paar rohe Kartoffeln ins Feuer, um den größten Hunger zu stillen. Es dauerte nämlich meist noch sehr lange, bis das eigentliche Abendessen fertig war. Insbesondere die kleineren Kinder waren dann oft schon eingeschlafen. Zum Abendessen gab es meist Pellkartoffeln, Eintopf oder Knollenfrüchte. Die Kartoffeln wurden ungewaschen in den Topf geworfen und in Wasser gekocht. Von Zeit zu Zeit wurden die unteren Kartoffeln durch ruckartige Bewegungen des Topfes nach oben gewendet. Wir Kinder hielten es meist nicht so lange aus und aßen die obersten Kartoffeln schon halbroh. Wirklich fertig gekochtes Essen erhielten meist nur die Eltern und die älteren Geschwister.

Diese saßen dann anschließend noch einige Zeit um die Feuerstelle herum und unterhielten sich. Mangels Radio, Büchern, elektrischem Licht und ähnlichen modernen Errungenschaften hatten sich die Leute immer noch sehr viel zu erzählen. Oft dauerten die Gespräche und Diskussionen bis weit in die Nacht hinein an. Zu den Themen gehörten nicht nur die für den nächsten Tag anstehenden Tätigkeiten und der übliche Dorftratsch, sondern auch die Weitergabe traditioneller Erzählungen, Märchen und Mythen. Sehr gerne wurden auch Lieder gesungen, deren Melodien und Texte wir Kinder auf diese Art und Weise erlernten. Unterdessen wurde sehr viel Tee getrunken, hergestellt z.B. aus Eichenharz oder Ahornblättern; chang gab es im Frühjahr nur selten, da dann die Getreidevorräte zur Neige gingen. Wenn die Müdigkeit zu groß wurde, legten sich die Leute nieder und schliefen. Zwänge, früh zu Bett zu gehen, weil man am nächsten Tag zeitig zur Schule oder zur Arbeit mußte, waren uns völlig fremd. Es lebte sich schon gut ohne Uhr.

Erste Erinnerungen

Oft hatte mein Vater Rückenschmerzen, wenn er abends von der harten Arbeit nach Hause kam. Dann legte er sich auf den Bauch, und mein Bruder und ich – wir waren damals noch sehr klein – durften auf seinem Rücken herumlaufen und hüpfen. Er sagte immer: "Au! Au!" Das faßten wir als Aufforderung auf, besonders kräftig zu springen. Irgendwann drehte sich Vater auf den Rücken. Dann hielt er uns abwechselnd an den Händen fest, drückte seine Füße gegen unseren Bauch und stemmte uns in die Höhe. Über ihm schwebend mußten wir bis 10 zählen, ehe er uns wieder hinabließ. Ein anderes Mal nahm er unseren Kopf in beide Hände und hob uns so in die Höhe. Auch hier mußten wir wieder bis 10 zählen. Wer schneller zählte, durfte früher wieder auf den Boden. Lustig war auch, wenn Vater uns auf den Rücken nahm und mit uns huckepack hinter den Tieren herlief.

Wichtig war in unserer frühen Kindheit, daß wir bei Vater immer Geborgenheit und Schutz fanden. So erinnere ich mich beispielsweise noch sehr gut daran, daß ich eines Nachts Angst bekam, als eine Eule heulte. Da ging Vater vor die Hütte, nahm einen Stein und warf ihn hinter der Eule her. Danach herrschte Ruhe. Als er wieder in die Hütte zurückkehrte, kroch ich in seinen Arm. Dort war es weich und warm, und ich konnte in Ruhe schlafen.

Am nächsten Tag – es war irgendwann im Monsun – ging Vater einen großen Ahornbaum auf unserem Grundstück fällen. Mutter, die das erst sah, als die Arbeit erledigt war, schimpfte sehr, weil dieser Baum in ihren Augen der Sitz einer devi (Göttin) war. Sie kündigte an, daß Vater davon krank werden würde. Im Herbst wurde Vater dann auch tatsächlich sehr krank. Er hatte Bauchschmerzen und Schüttelfrost und litt ständig unter einem gelben, schaumigen Durchfall. Mutter setzte uns psychisch unter Druck, indem sie ständig erklärte, Vater würde sterben; dann ginge sie ins Kloster. Unseren kleinen Bruder nähme sie mit. Mein älterer Bruder und ich aber sollten zu Onkel und Tante gehen, wo wir dann noch härter arbeiten müßten. Mein Bruder, der sehr sensibel war, verkroch sich unter seiner Decke und heulte leise vor sich hin. Ich wollte ihn trösten, mir fiel aber nichts anderes ein, als zu ihm unter die Decke zu kriechen und mitzuheulen. Es war das erste Mal, an das ich mich erinnern kann, daß ich geweint habe.

Irgendwann kam ein Mönch aus Takshindu vorbei, der sich auf dem Rückweg von einer Leichenverbrennung befand. Er rollte eine Art große Zigarette, steckte sie irgendwie auf dem Bauch meines Vaters fest, etwas oberhalb des Bauchnabels, und zündete sie an. Sie glühte ganz langsam und fraß sich allmählich in die Bauchdecke meines Vaters hinein. Vater wimmerte leise, ließ die Prozedur aber über sich ergehen. Dieser Vorgang wurde noch zweimal wiederholt. Einige Zeit später wurde Vater tatsächlich wieder gesund. Es blieben nur drei Narben auf der Bauchdecke.

Einmal – Vater und Mutter waren gerade mit der Ernte der Gerste beschäftigt, und es bahnte sich ein Gewitter an – schickten mich meine Eltern mit einer kleinen Vase zur Quelle, um etwas Wasser zu holen. Als ich mich der Quelle näherte, erblickte ich eine rotgoldene Schlange mit schwarzen Tupfern, die langsam in die Quelle hineinkroch. Da lief ich, so schnell ich konnte, mit der leeren Bambusvase zu meinen Eltern zurück und berichtete ihnen von dem Erlebnis. Vater fragte spottend, was die Schlange denn gesagt habe, ob sie "guten Tag, Lhakpa" gesagt habe. Mutter meinte, die Schlange sei schon längst über alle Berge. Zögernd und ängstlich ging ich wieder zur Quelle zurück und untersuchte sorgfältig die gesamte Umgebung. Die Schlange war tatsächlich verschwunden.

Ein anderes Mal traf ich an der Quelle einen jungen tsak (Schwiegersohn) – so pflegen die Sherpa Männer zu bezeichnen, die ein Mädchen aus dem Dorf heiraten – aus Ledingma. Er fragte mich, ob meine Eltern miteinander sexuell verkehrten. Ich konnte mir damals darunter nichts vorstellen. Als meine Mutter mich später fragte, was der tsak gesagt habe, erzählte ich wörtlich, was ich gehört hatte. Da lachte Mutter nur.

Ich kann mich auch noch daran erinnern, daß mein Vater mich in ein Rai-Dorf mitgenommen hat, wo ein mit (Freund) von ihm wohnte. Dort im wesentlich niedriger gelegenen Rai-Dorf war das Getreide schon reifer als bei uns. Mein Vater ließ mich mit unseren Tieren bei einer alten Rai-Frau zurück. Diese bot mir Sauermilch an, die ich jedoch ablehnte. Am nächsten Morgen bin ich dann einfach in Richtung unseres Dorfes davongelaufen. Als ich etwas oberhalb von mir ein Reh erblickte, bekam ich Angst. Ich dachte, das Reh würde mich fressen. Aber ich faßte allen Mut zusammen und ging weiter. Jenseits der Brücke über den Yawa-Khola kam ich zur Hütte meiner Tante, wo man bereits meinen Gesang, mit dem ich meine Angst vertrieb, gehört hatte. Als ich bei meinen Eltern zu Hause ankam, erzählte ich ihnen, ich sei nach Hause gekommen, weil eine Kuh heiß geworden sei; ich mußte ja schließlich irgendeinen Grund angeben, warum ich nicht im Rai-Dorf geblieben war. Vater machte sich sofort auf den Weg. Später kam er zurück und sagte, das stimme überhaupt nicht. Ob er böse war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich wollte jedenfalls nicht länger alleine bei den fremden Leuten im Rai-Dorf bleiben. Offensichtlich war ich mit derartigen Aufgaben noch etwas überfordert.

Dies belegt auch eine andere Geschichte. Meine Eltern schickten mich einmal gemeinsam mit einer älteren Cousine und den Tieren der beiden Familien auf die Weiden von Sallung, wo die Tiere etwa drei Monate bleiben. Irgendwann sagte meine Cousine, sie müsse nach Hause gehen, um ihren Eltern etwas auszurichten. Ich wollte gerne für sie gehen, aber sie behauptete, ich könne das ihren Eltern nicht richtig erklären. Also ging sie selbst, und ich sollte alleine bei den Tieren zurückbleiben. Als sie jedoch gegangen war, schlich ich hinter ihr her und suchte immer Deckung hinter Bäumen und Büschen, damit sie mich nicht sehen konnte, falls sie sich umdrehte. Eine Tante, die dies von oben beobachtete, sagte später, sie hätte auch nicht gewußt, was das sollte; das habe so seltsam ausgesehen, als würden wir Verstecken spielen. Später trennten sich unsere Wege; meine Cousine ging zu ihrem Elternhaus in Shiteling, ich ging zum Haus meiner Eltern in Yawa. Während meine Cousine noch am gleichen Abend wieder zu den Tieren zurückging, schickten mich meine Eltern erst am nächsten Tag zurück. Meine Cousine stellte mich natürlich zur Rede, wo ich denn gewesen sei. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, was ich als Entschuldigung vorgebrachte.

Einige Tage später kam meine Tante mit der kleinen Lhami vorbei, die noch nicht laufen konnte. Während die Tante in der Umgebung jene Knollen suchen ging, die so scharf sind, daß alle Darmwürmer abgetötet werden, erboten wir uns – das waren inzwischen vier bis fünf Kinder meines Alters – auf Lhami aufzupassen. Wir lehnten sie irgendwann an einen Baumstamm und vergaßen das kleine Mädchen völlig, während wir spielten. Auf einmal sahen wir sie kopfüber den Hang hinunterrollen. Meine Tante, die dies beobachtete, schrie auf. Das Kind schlug mehrfach auf und blieb am letzten Strauch vor einem Felsabhang hängen. Wie durch ein Wunder hatte Lhami fast keine Verletzungen davongetragen; ihre Mutter jedoch erlitt einen Schock.

Später vermißten wir eine unserer Kühe. Daher machte ich mich bei hereinbrechender Dunkelheit mit meiner Tante auf, um das Tier zu suchen. Wir gingen immer am Hang entlang und riefen nach der Kuh. Es gibt eine bewährte Methode, wie man vermißte Kühe finden kann. Man reißt sich dazu eine Augenwimper aus, legt sie auf die Handfläche, spuckt darauf und schlägt mit der Kante der anderen Hand kräftig auf die Handfläche. Anschließend braucht man die Kuh nur noch in der Richtung zu suchen, in die die Wimper von der Hand gefallen ist. Leider versagte diese Methode an jenem Abend. Wir fanden das Tier erst am nächsten Morgen. Es war während der Nacht von einem Leoparden gerissen worden, nur wenig unterhalb der Stelle, wo wir gesucht hatten.

In der Nähe unserer Hütte gab es eine unter Sträuchern verborgene Stelle, an der man weiße, kalkartige Erde fand, die sehr süßlich schmeckte. Zwei meiner Cousinen, die schon etwas älter als ich waren, haben sehr viel davon gegessen. Ich war noch zu klein, um mir selbst von dieser Erde zu holen. Als ich hartnäckig bettelte, gaben sie mir ein wenig davon ab. Später bezeichneten sie mich als kleines Kind und wollten mir nichts mehr geben. Ich weiß nicht, ob es an dieser Erde lag, daß meine beiden Cousinen später gestorben sind.

Einmal war ich sehr krank, so daß ich nur noch liegen konnte. Da hörte ich, wie meine Cousinen neben mir sagten: "Die Lhakpa stirbt! Die Lhakpa stirbt!" Als ich das hörte, mußte ich sehr weinen. Ich richtete mich etwas auf, und die anderen klopften mir auf den Rücken. Da kamen große Schleimmengen aus meiner Nase heraus. Mein Bruder Gyaltsen meinte trocken, wer solchen Schnupfen habe, der könne nicht sterben. Wie recht er doch hatte.

Es war wirklich nicht einfach, alle Verhaltsregeln richtig zu beachten. So hatten wir einmal ein Kalb an einem Pfahl festgebunden. Als wir später wieder nach dem Tier schauten, lag es tot am Boden, und eine lange Schlange schlängelte sich um den Pfahl und erhob ihren Kopf über das Pfahlende. Wieder mußte ich erfahren, daß es einmal mehr an mir gelegen hatte, daß es zu einem solchen Unfall gekommen war. Mutter erklärte nämlich, ich hätte nach unten anstatt nach oben gebetet. Desweg sei dies nun passiert. Ich empfand ein großes Schuldgefühl.

Einmal sind wir mit allen unseren Tieren von Yawa nach Shiteling umgezogen. Dabei mußten wir auch unsere Hühner transportieren, eine Aufgabe, die Gyaltsen und mir zufiel. Wir banden die Füße der Hühner mit Jutekordel zusammen. Dann packten wir sie unten in unsere Tragekörbe und legten noch jede Menge anderer Sachen darauf. Unterwegs machte ich meinen Bruder darauf aufmerksam, daß die Hühner ständig ihre Schnäbel aufrissen, möglicherweise weil sie Durst hätten. Gyaltsen, der angesichts seiner größeren Erfahrung die Regie übernommen hatte, meinte, das machten die Hühner immer. Als wir zu einer Quelle kamen, hielten wir dennoch an, um den Hühnern etwas zu trinken zu geben. Da sahen wir, daß einige der Tiere tot waren. Wir glaubten, das läge daran, daß wir ihnen die Füße zusammengebunden hatten. Wir banden sie also los. Da flogen die beiden überlebenden Hühner in die Wälder davon. Die übrigen waren unter der auf ihnen aufgestapelten Last gestorben. Leute, die in der Nähe bei der Heuernte waren, amüsierten sich köstlich. Wir packten die toten Tiere zusammen und brachten sie nach Hause. Als ein Bekannter die vielen toten Hühner sah, fragte er, ob ein Marder gekommen sei. Mutter verneinte und sagte bloß, die Kinder seien mit den Hühnern umgezogen.

Später haben meine Eltern bei der Verwandtschaft neue Hühner gekauft. Diesmal mauerte Vater sogar einen richtigen kleinen Hühnerstall mit Steinwänden und einer Schiebetür. Eines Tages sagte ich zu meinem Bruder, wir müßten die Tür des Hühnerstalls verschließen; ich hätte da oben am Hang eine Katze gesehen. Gyaltsen lachte darüber. Wir brauchten die Tür nicht zu verschließen; Katzen würden doch keine Hühner fressen, meinte er. Am nächsten Tag war der Hühnerstall leer. Offensichtlich war die Katze, die ich gesehen hatte, ein Fuchs.

Einmal kam eine Schwägerin unserer Mutter vorbei, um Salz zu leihen. Als sie von weitem rief, sagte Mutter, wir Kinder sollten schnell Salz ins Feuer werfen, wie man es zu tun pflegt, um böse Geister abzuwehren. Wir haben den dicksten Salzklumpen, den wir greifen konnten, in die Flammen geworfen. Die Folge war ein Feuerwerk; wir bekamen die ganzen Funken ab. Der Tante mußte ich sagen, wir hätten kein Salz. Das war mir sehr unangenehm, weil die Tante immer sehr nett zu uns war und wir stets etwas zu essen bekamen, wenn wir sie besuchten.

Mutter schickte mich einmal in die Wälder, um Laub zu holen. Ich machte mich mit einem großen Tragekorb auf den Weg. Unterwegs machte ich Rast und schaute mir die Gegend an. Auf einem Felsblock neben mir wuchs graues Moos. Zwischen dem Moos krochen zahlreiche kleine Tierchen umher. Ich hatte keine große Lust, Laub zu sammeln. So träumte ich lange Zeit vor mich hin. Irgendwann merkte ich, daß es bereits dämmerte. Daher ging ich wieder in Richtung zum Haus meiner Eltern. Am Zaun der Großeltern blieb ich stehen, bis es ganz dunkel war. Das war mir dann aber auch nicht ganz geheuer; ich verspürte Angst und entschloß mich, doch ins Haus zu gehen. Mutter wartete bereits an der Scheune auf mich und schimpfte, wo denn das Laub sei. Sie war sehr böse und drohte, ich bekäme nichts zu essen. Ob ich wirklich nichts bekommen habe, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

In sehr guter Erinnerung ist mir jedoch die Geburt meiner nächstjüngeren Schwester. Mutter stand eines Morgens, es war im Monsun, mit ihrem dicken Bauch da und lachte. Danach ging ich mit den Tieren in die Wälder. Als ich gegen Abend wieder nach Hause kam, war das Baby bereits geboren. Mutter lag mit dem kleinen Bündel auf der Erde und mußte geschmolzene Butter trinken. Es ist eine alte Sherpa-Tradition, daß Frauen nach der Geburt eines Kindes viel geschmolzene Butter erhalten. Die Leute glauben, daß sich beim Geburtsvorgang die Knochen vom Fleisch und die Nägel von den Fingern und Füßen lösen. Daher bekommen die Frauen nicht nur geschmolzene Butter, sondern auch mit Kartoffelschnaps vermischte geschmolzene Butter und allerlei gute Nahrung, die nicht jeden Tag aufgetischt wird. Vater war sehr um seine Frau bemüht. Dennoch schimpfte Mutter, die Butter sei nicht richtig geschmolzen.

Als Kinder mußten wir oft mit der Steinmühle Maiskörner mahlen. Es waren immer fünf mana (0,568 l) zu mahlen, was sehr anstrengend war. Jedenfalls fühlte ich mich als kleines Kind kräftemäßig überfordert. Daher ließ ich stets etwas Mais unter der Strohmatte, auf der wir schliefen, verschwinden, ohne daß die Eltern das merkten. Selbstverständlich hatte ich Angst, da eine Lebensweisheit sagte, daß man verhungern würde, wenn man ein mana Getreide verschwende. Zumindest kannten wir diese Parole von unserer Mutter. Da der Boden recht feucht war, begannen die Körner natürlich nach einiger Zeit zu keimen. Die Eltern werden sich ihren Teil gedacht haben, sagten aber nichts.

Eines Nachts hatte es sehr stark geregnet. Am nächsten Morgen waren überall auf den Kartoffelfeldern Quellen aus dem Boden getreten. Daher mußte die gesamte Familie ausrücken, um die Kartoffeln zu ernten. Zunächst habe ich auch eifrig mitgeholfen. Irgendwann hatte ich aber dann die glorreiche Idee, daß man ja auch die Kartoffeln mit Erde zudecken könnte, so daß man sie nicht mehr sähe. Dann brauchten wir nicht mehr so viele Kartoffeln auszumachen. Also setzte ich meine Idee in die Tat um. Ich machte das so gründlich, daß hinterher die Stelle genauso aussah wie das restliche Feld. Niemand merkte etwas. Im nächsten Frühjahr wunderten sich dann alle, daß an dieser Stelle so viele Kartoffeln aus der Erde sprossen.

Einmal schickten mich meine Eltern mit einer kleinen Vase zum Wasserholen. Ich legte die Vase in einen Tragekorb und rannte, so schnell ich konnte, zur Quelle. Als ich unten Onkel und Tante beim Maispflanzen sah, rannte ich noch schneller. Dabei verlor ich an einer Wegbiegung die Kontrolle. Durch mein Hüpfen sprang die Vase oben aus meiner Kiepe heraus, überschlug sich mehrfach den Hang hinab und zersprang in hunderte Scherben. Onkel und Tante hatten den Vorgang beobachtet und amüsierten sich. Sie trösteten mich und gaben mir ihre Vase, damit ich nicht mit leeren Händen nach Hause gehen mußte. Als ich nach Hause kam, merkten die Eltern jedoch sofort, daß ich eine andere Vase mitgebracht hatte. Vater grinste und fragte, ob wir jetzt eine neue Vase hätten. Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört.

Als die Eltern einmal außer Haus waren, machten Gyaltsen und ich Kartoffelpüree, aus dem wir Kartoffelnudeln herstellen wollten. Darüber gerieten wir in Streit. Gyaltsen, der älter und natürlich auch stärker als ich war, sperrte mich unter einen umgestülpten Tragekorb und setzte sich dann selbst oben darauf. Wir waren so sehr mit Zanken beschäftigt, daß wir nicht bemerkten, daß ein fremder Hund zur Tür hereinkam und unser Kartoffelpüree fraß. Als wir dies schließlich doch bemerkten, war es bereits zu spät. Gyaltsen stellte den Hund zur Rede und fragte, ob er unser Essen gefressen habe. Der Hund zog den Schwanz ein und verzog sich langsam. Wir mußten hungrig zu Bett gehen.

Mein Bruder Dawa und ich mußten einmal den ganzen Tag Unkraut jäten. Natürlich ließen wir die Zeit nicht ungenutzt und unterhielten uns intensiv über alles Mögliche. Doch wie das oft so ist, hatte wohl einer von uns etwas Falsches gesagt, und schon bekamen wir den größten Streit. Nach langer Diskussion reichten die Worte nicht mehr, und wir gingen mit den Hacken aufeinander los. Vater, der die ganze Zeit über unserem Streit grinsend zugehört hatte, während er auf dem Nachbarfeld arbeitete, sah sich zum Einschreiten genötigt und kam zu uns herüber. Er wollte uns züchtigen, weil wir den Mais platt getreten hatten. Vater hatte die Eigenart, nicht danach zu fragen, wer schuldig war und wer nicht. Bei ihm bekamen stets alle Beteiligten ihren Teil ab. Daher verbündete ich mich wieder mit Dawa und rief ihm zu, er solle schnell davonlaufen, weil Vater uns schlagen wolle. Das ließ sich Dawa natürlich nicht zweimal sagen.

Gyaltsen und Namgyal, ein Junge aus dem Dorf, wollten einmal Pflügen spielen. Da keine richtigen Ochsen zur Hand waren, mußten Namgyals schwerbehinderte Schwester Lhakyi und ich daran glauben. Wir wurden vor den Pflug gespannt und von den beiden Jungen mit lautem Rufen und Schimpfen angetrieben. Anschließend erhielten wir zur Belohnung Gras und Wasser, später auch etwas Milchsuppe.

Mit Kanchi aus Chulemo war ich einmal "verheiratet". Kanchi war meine Frau. Damals besaß unsere Familie nur eine einzige Nähnadel. Diese Nadel tauschte ich mit Kanchi gegen vier Streichhölzer; die Streichholzschachtel behielt Kanchi. Ich verstand gar nicht, warum meine Eltern hinterher so ein Theater machten. Schließlich war Kanchi doch meine Frau. Die Eltern meinten, wir seien zum Geschäftemachen noch viel zu jung. Also mußte unser Handel rückgängig gemacht werden.

Gawa (der alte Mann) (der alte Mann)

In Yawa lebte einmal ein alter Mann, der immer nur Gawa (alter Mann) genannt wurde. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Er war der Großvater von vielen Enkelkindern. Er war zweimal verheiratet gewesen, jetzt aber geschieden, und hatte drei Söhne und zwei Töchter. Als seine Söhne alle verheiratet und die Schwiegertöchter ins Haus gekommen waren, war dort kein Platz und kein Interesse mehr für den alten Vater. Daher zog er zu der zweiten Tochter und ihrem Mann, die wiederum drei Kinder hatten, nach Akang.

Eines Tages starb Gawa. Da kamen seine drei Söhne herbeigelaufen und schleppten den Leichnam des Vaters unter vielen Tränen zum neuen Haus des mittleren der drei Brüder in unserem Dorf. Diesem Sohn des Alten ging es wirtschaftlich sehr gut. So gab es Dickmilch am ersten Tag der Totenfeier, etwas wirklich Ungewöhnliches.

Zu seinen Lebzeiten hatten die Söhne kein Interesse für ihren Vater gehabt. Nun aber stürzten sie sich in Unkosten. Alle weinten, und es gab ein großes Fest für das ganze Dorf. Das Fest kostete viel Geld, aber das machte nichts. Es ging ja schließlich um die Ehre der Söhne. Hätten diese auch jetzt nichts für den toten Vater getan, hätten alle Leute schlecht über sie gesprochen. Und das wollten sie vermeiden. Insbesondere, wenn sie später einmal Streit mit anderen hätten, dann würden diese ihnen vorhalten, sie wären ja nicht einmal in der Lage gewesen, die Totenzeremonien für den Vater richtig durchzuführen. Das ist eine der schlimmsten Beschimpfungen, die einem Sherpa vorgehalten werden können.

Die gelähmte Sherpa-Frau

In Ringmo lebte eine verwitwete gelähmte Sherpa-Frau, die drei Töchter und einen Sohn hatte. Die älteste Tochter war in der Nähe von Ringmo verheiratet. Der Sohn war ziemlich jähzornig und schlug häufig seine beiden jüngeren Schwestern, die dann manchmal Zuflucht bei der ältesten Schwester suchten. Der junge Mann hatte quasi die Autoritätsrolle des Vaters übernommen.

Eines Tages sagte eine der beiden Töchter zu ihrer Mutter, daß sie nach Indien weggehen wolle. Natürlich hätte sie auch einfach heimlich weglaufen können, wie das meist der Fall ist. Als sie sich auf den Weg machte, versuchte die Mutter, sie zurückzuhalten, und schrie fürchterlich, so daß alle Leute es hören konnten: "Hilfe, komm zurück!" Aber die Tochter blickte sich einfach nicht mehr um und lief durch Ringmo, so schnell sie konnte. Die Mutter rief hinter ihr her: "Verlaß mich nicht, mein Kind!" Und sie schrie und weinte bitterlich, bis sie ganz heiser war. Aber es kam kein Echo mehr von den Berghängen.

Die Frau hatte es geschafft, auf allen Vieren bis vor die Haustür zu kriechen. Nun war sie erschöpft und am Boden zerstört. Sie schaute ununterbrochen auf die Wege, über die ihre Tochter davongelaufen war, offensichtlich hoffend, ihr Kind würde doch wieder zurückkehren. Es war schon ganz dunkel, als die Frau immer noch vor ihrem Haus auf der Erde saß. Auch in der Folgezeit schaute sie immer mit leeren Augen über die Hügel hinweg. Wenn sie gesunde Beine gehabt hätte, hätte sie sicherlich die Tochter zurückhalten können. Später soll ihre Tochter dann doch zurückgekehrt sein und viel Geld mitgebracht haben.

Kiduk (Schicksal)

Ein Ehepaar mit sechs Kindern wohnte in einer ärmlichen Bambushütte mitten im Dorf. Die beiden ältesten Töchter waren alt genug, bei anderen Leuten zu leben und zu arbeiten, aber das ist ja im Himalaya bereits ab dem Kindesalter üblich. Auch der älteste Sohn arbeitete bereits ein wenig bei seiner Tante nebenan. Dennoch ging es der Familie wirtschaftlich sehr schlecht. Die beiden jüngsten Söhne spielten tagsüber meist mit uns die üblichen Spiele wie z.B. Steinewerfen. Dabei ging es stets recht laut zu.

Als wir eines Tages wieder mit fröhlichem Spiel beschäftigt waren, kam die älteste Tochter der Familie, Mendok, mit Quark vorbei. Sie wußte offensichtlich, daß es den Eltern sehr schlecht ging; wir Kinder hatten dies gar nicht so wahrgenommen. Es war gerade Frühlingszeit; dann haben viele Leute nicht mehr genug zu essen, weil die Vorräte aufgebraucht sind und die neue Ernte noch sehr fern ist. So beiläufig erwähnte Mendok, daß der Vater schon gestorben sei; auch der Mutter gehe es sehr schlecht. Kurz darauf beobachteten wir dann, wie der Leichnam des Vaters zum Verbrennungsplatz getragen wurde. Das Ganze vollzog sich äußerst schlicht, da für die Abhaltung der üblichen Zeremonien nicht genügend Geld vorhanden war.

Nur zwei Tage später starb dann auch die Mutter der Kinder. Sie hatte erst kurz zuvor ein weiteres Kind zur Welt gebracht, das natürlich noch von der Muttermilch abhängig war. Nun standen die Kinder also ganz alleine da. Die in der Nachbarschaft wohnende Tante nahm das kleine Baby zu sich, doch konnte sie nicht verhindern, daß es kurz darauf ebenfalls starb. So war die Familie innerhalb weniger Tage von drei Totesfällen betroffen.

Panu, der älteste Sohn, lebte ebenfalls noch einige Jahre bei seiner Tante. Er mußte jedoch hart arbeiten und wurde von seinen Vettern sehr schlecht behandelt, insbesondere mit Worten. Etwa zehn Jahre später gab auch er den Lebenskampf auf. Der zweitälteste Sohn arbeitete weiterhin im Nachbardorf. Dennoch war er immer sehr fröhlich, wenn er vorbeikam. Er liebte es besonders, an der Tür stehen zu bleiben, eine Vogelscheuche zu spielen und allen Kindern, die vorübergingen, Tritte zu versetzen. Dabei lachte er aus vollem Halse. Einige Jahre später ist er dann nach Indien gegangen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.

Der jüngste Sohn, Dawa (Mond), kam in der Familie unter, bei der auch seine beiden älteren Schwestern arbeiteten. Auch ihn traf das Schicksal manchmal hart. So fiel er eines Tages von einem Blütenbaum (Mendok Puti), als er dort oben Viehfutter schnitt. Dabei zog er sich schwere Schädelverletzungen zu. Wir konnten ihm auch nicht anders helfen als mit Trost. Bald ging es ihm zwar wieder besser, er ist aber körperlich sehr klein geblieben. Die Leute sagten immer, vom zu vielen Lastentragen bliebe man klein. Dennoch war er sehr stark und fleißig.

Seine älteste Schwester hat nach vielen Jahren doch noch einen Ehemann abbekommen. Sie war zum Zeitpunkt der Eheschließung bestimmt schon weit über dreißig. Dienstpersonal hat es nämlich immer besonders schwer, einen Ehepartner zu finden. Zunächst ging es ihr dann wirtschaftlich gar nicht so schlecht; sie hatte allerdings größere Probleme mit ihrer Schwiegermutter. Sie und ihr Mann lebten vor allem von der Zucht von zobkyog, die sie nach Tibet oder Khumbu verkauften. Als dann die Chinesen 1959 nach der endgültigen Besetzung Tibets die Grenze dichtmachten, fielen die Preise für die Tiere; die Familie war ruiniert.

Ihre jüngere Schwester ist irgendwann nach Indien gegangen und hat dort auch in schon fortgeschrittenem Alter noch geheiratet. Das wenige Geld, das sie sich im Laufe der Jahre von ihrer Arbeit hatte zusammensparen können, ließ sie bei der Familie ihres alten Arbeitgebers zurück, damit es Zinsen brächte. Ob sie davon noch einmal etwas zurückbekommen hat, weiß ich nicht. Das Land ihrer Eltern bewirtschaftet heute jedenfalls der Sohn ihres ehemaligen Arbeitgebers.

Das Mädchen Mukpipum

Das Mädchen Mukpipum aus Taljangma wurde einst nach Yawa mit Mingma, dem ältesten Sohn einer Familie, verheiratet. Da es ihren Eltern wirtschaftlich recht gut ging, konnte sie noch ein paar Jahr in ihrem Elternhaus wohnen bleiben. Als sie dann endgültig in das Haus ihrer Schwiegereltern umzog, bekam sie von ihren Eltern einige Tiere, Goldschmuck und Kleidung geschenkt.

Mingmas Eltern hätten nun eigentlich eine Hütte und ein Grundstück für die jungen Leute zur Verfügung stellen müssen. Aber sie bestanden darauf, daß das junge Paar noch einige Zeit im elterlichen Haus wohnen sollte. Mingmas Mutter war sehr dominierend. Mukpipum hatte überhaupt nichts zu sagen. So konnten Spannungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter nicht ausbleiben. Einmal ging ein Kalb verloren, und die Familie mußte die halbe Nacht danach suchen. Während die Schwiegermutter die ganze Zeit nur geschimpft hatte, brachte der Schwiegervater Mukpipum heimlich noch etwas zu essen vorbei. Doch leider hatte der Schwiegervater auch nichts zu sagen.

Nach etwa einem Jahr bekam Mukpipum ein Kind, ein kleines Mädchen. Da Mukpipums Eltern gehört hatten, daß ihre Tochter so schlecht behandelt wurde, kamen sie und holten Mukpipum samt Enkeltochter und Mitgift wieder ab. Mukpipum war damals sehr krank. Damit endete die Zwangsehe in einer Zwangsscheidung.

Am gleichen Tag, an dem die Eltern Mukpipum abholten, wurde die junge Frau trotz ihrer schweren Erkrankung wieder einem anderen Mann aus Tongnasa versprochen. Andererseits hielten Mingmas Eltern am selben Tag in Tsangga um die Hand eines anderen Mädchens an. Die Kinder wurden als rechtlose Ware behandelt, nur damit die Eltern ihre Macht demonstrieren konnten.

Mukpipum starb ein halbes Jahr später im Haus ihres zweiten Ehemannes. Ihre Tochter aus erster Ehe wurde von ihrer älteren Schwester, deren Ehe kinderlos geblieben war, herzlich aufgenommen und wie ein Wunschkind behandelt. Als das Kind einige Jahre später starb, waren seine Adoptiveltern am Boden zerstört.

Der verarmte munmin (Bürgermeister)

In unserem Dorf lebte einst ein angesehener Mann, der früher einmal munmin gewesen war. Auch nachdem er das Amt schon längst niedergelegt und sich in der Klostersiedlung oberhalb des Dorfes niedergelassen hatte, wurde er von der Bevölkerung immer noch munmin genannt. Sein Ansehen beruhte nicht zuletzt auf seinem wirtschaftlichen Wohlstand. Er besaß mehr als zwanzig zom (weibliches Milchtier, eine Kreuzung zwischen Rind und Yak), und zwei Nichten waren ständig in seinem Haushalt als Mägde eingestellt.

Eines Tages kamen Leute, die Interesse am Kauf seiner Tiere bekundeten. Der Mann ließ sich überreden und verkaufte ihnen seine gesamte Viehherde. Den Erlös, den er in Form von Papiergeld ausgezahlt bekam, versteckte er in seinem Haus, das entgegen der Sherpapraxis aus Holz gebaut war. Solche Holzhäuser findet man übrigens in der fast 3000 Meter hoch gelegenen Klostersiedlung häufiger; Holzhäuser sind wärmer als die üblichen Steinhäuser, außerdem gibt es in der Nähe des Klosters noch heute ausgedehnte Wälder.

Wie das Schicksal es wollte, geriet das Haus einige Zeit später in Brand. Auch Brandstiftung war als Ursache nicht ganz auszuschließen, bezeichnenderweise brannte nämlich in der gleichen Nacht auch das leerstehende Haus seines reichen Schwagers am gegenüberliegenden Berghang ab. Die Personen konnten sich alle ins Freie retten. Die Geldscheine aber konnte man nicht mehr in Sicherheit bringen, so daß sie zu Asche verbrannten. Die nun verarmte Familie kehrte in unser Dorf zurück, wo sie sich am Dorfrand in einer kleinen Hütte niederließ. Zu allem Überfluß erkrankte auch noch der zweitälteste Sohn nach seiner Rückkehr von einem Indienaufenthalt an Lepra und war nicht mehr arbeitsfähig.

Der Bruder der Ehefrau war ebenfalls sehr wohlhabend; er besaß neben zwei Häusern und großen Ländereien eine Schaf- und eine zom-Herde. Es hätte ihm sicherlich nichts ausgemacht, die in Not geratene Familie seiner älteren Schwester etwas zu unterstützen. Stattdessen aber stritt er mit seiner Schwester und verprügelte sie – von Mitleid und Nächstenliebe keine Spur. Die Kinder der verarmten Familie, die, wie es damals so üblich war, allesamt keine Schulausbildung genossen hatten, mußten sich als Tagelöhner bei anderen Leuten verdingen, damit die Familie überleben konnte. Zwar besaß die Familie weiterhin Land, doch konnte sie darauf nicht viel anbauen; ohne Tiere war Feldarbeit nicht möglich, ohne Tiere gab es weder Dünger noch Milch.

Eine andere Familie, bei der die Leute sich zeitweise als Tagelöhner verdingten, verdoppelte aus Mitleid den sonst üblichen Tagessatz von damals 2 Rupien auf 4 Rupien, die mangels Bargeld in Getreide ausgezahlt wurden. Diese Maßnahme sorgte im Dorf für erhebliche Unruhe. Andere Leute schimpften, daß diese einseitige Handlungsweise die Preise im Dorf kaputtmachen würde. Am folgenden Tag wunderte sich die barmherzige Familie sehr darüber, daß die Mitglieder der verarmten Familie nicht mehr zur Arbeit erschienen. Es stellte sich schließlich heraus, daß andere Leute im Dorf noch eine halbe Rupie mehr geboten hatten. Dennoch war dies alles nur ein Zwischenspiel. Eines Tages verließ die Familie, die nun nicht mehr an den üblichen Festen im Dorf beteiligt wurde, im Mondschein ihre Heimat und suchte nach einer besseren Zukunft, vermutlich in Indien. Nur ihren Hund ließen sie im Dorf zurück. Er heulte entsetzlich.

Die alte Frau, der zweimal die Hütte abbrannte

Eine alte Frau hatte vier Töchter und einen Sohn. Eine Tochter war nach Pharak verheiratet worden, eine andere war mehrfach geschieden und mit einer Tochter wieder nach Hause zurückgekehrt. Eigentlich hätte die alte Frau bei ihrem Sohn bleiben sollen. Dessen erste Frau war gestorben. Dann hatte er eine zweite Frau geheiratet. Es kam offensichtlich zu Spannungen zwischen den Generationen, zumal auch noch zwei unverheiratete Töchter im Haus wohnten. Daher zog die alte Frau gemeinsam mit der oben erwähnten Enkelin in eine kleine Hütte in Gangtok, einem kleinen Ort an einem sonnigen Hang abseits von Yawa.

Die Enkelin half der Großmutter bei der täglichen Arbeit, d.h. sie holte Wasser, sammelte Brennholz und mahlte das Mehl. Hin und wieder kam auch ihre älteste Tochter aus Pharak vorbei, der es wirtschaftlich nicht sonderlich gut ging. Ich kann mich erinnern, daß sie einmal mit einem gebrochen Arm zur Mutter kam. Ihr Bruder stellte ihr neben der Hütte der Mutter ein kleines Stück Land zur Verfügung, das sie bebauen konnte.

Zu allem Überfluß wollte es das Schicksal, daß die Hütte der alten Frau zweimal abbrannte. Es geschah beide Male am hellichten Tage im Winter. Offensichtlich waren alle außerhalb der Hütte mit der Arbeit beschäftigt gewesen, und niemand hatte auf das Feuer aufgepaßt. Der Sohn der alten Frau kümmerte sich gar nicht um das Unglück seiner alten Mutter. So kam jedesmal ihr Schwiegersohn, der Ehemann der jüngsten Tochter, aus Tamsare und baute die Hütte wieder auf. Ich kann mich erinnern, daß diese Tochter weinte, weil ihr Bruder nicht mithelfen wollte.

Als dann die alte Frau nach einiger Zeit starb, kam natürlich der Sohn und holte den Leichnam seiner Mutter in sein neues Haus, um dort die Totenzeremonien abzuhalten. Auch hier wurde ein großes Fest gefeiert, damit später nur ja niemand dem Mann nachsagen konnte, er habe seine Sohnespflichten gegenüber der Mutter vernachlässigt. So wurde die Frau nicht auf dem Verbrennungsplatz unseres Dorfes eingeäschert, sondern nach Takshindu geschleppt. Weil die Töchter nicht nach Takshindu mitgehen konnten, wurde vor dem Haus der Leichensack geöffnet, damit sie noch einmal das Gesicht der Mutter sehen konnten.

Ein Mädchen verläßt das Elternhaus

Wenn ein Mädchen heiratet, verläßt es seine eigene Familie und geht in die Familie ihres Mannes über. Irgendwann ist für jede junge Frau dieser Tag X gekommen. Sie wird das Elternhaus für immer verlassen und nie wieder dorthin zurückkehren, allenfalls bei der Heirat der Geschwister, falls sie dann eingeladen wird, oder beim Tod der Eltern. Die Frau ist nun eine Fremde in ihrem Elternhaus, ist aber gleichzeitig eine Fremde in ihrer neuen Familie. Manchmal kommt es aber auch vor, daß eine Frau eines Tages, weil es ihr wirtschaftlich schlecht geht oder weil sie glaubt, sie hätte zu wenige Geschenke bekommen, doch nach Hause kommt und um etwas Geld bettelt. Oft sind dann aber ihre Gastgeschenke – chang, arak (Schnaps) o.ä. – größer als das, was sie selbst wieder mitnimmt. Deshalb gehen nicht viele Frauen in ihrer Not zu den Eltern.

Anders steht es mit den Frauen, die keine Kinder bekommen haben. Wenn sie nach fünf oder sechs Jahren noch immer keinen Nachwuchs haben, werden sie nicht selten von ihren Schwiegereltern und Ehemännern verstoßen und kehren daher zu ihrem Elternhaus zurück. Sie heiraten eventuell später erneut, meist Witwer, oder aber sie gehen ins Kloster. Auch Frauen, die körperliche Mißbildungen, z.B. einen Kropf, haben, finden nur sehr schwer einen Ehepartner.

Große Probleme entstehen insbesondere für die Frauen, die den jüngsten Sohn einer anderen Familie geheiratet haben. Normalerweise übernimmt nämlich der jüngste Sohn das Haus der Eltern, so daß das junge Ehepaar gemeinsam mit den Eltern und eventuell auch Schwestern des Mannes in einem Haushalt zusammen leben muß. Die junge Frau muß daher versuchen, die Gunst der Schwiegermutter oder ihrer Schwägerinnen zu erlangen. Die Gunst der Schwägerinnen ist besonders wichtig, weil diese dann häufig auch die Partei der hereingeheirateten jungen Frau ergreifen und ihrer Mutter widersprechen. Wenn zwei Frauen zusammenhalten, bedeutet dies einen sehr starken Rückhalt. Die Ehemänner trauen sich meist nicht, der Mutter zu widersprechen. Nicht selten kommt es vor, daß die befreundete Schwägerin später einen Bruder der jungen Frau heiratet. Eine solche Heirat steht dann von Anfang an unter einem guten Stern.

Mädchen aus armen Verhältnissen wechseln meist bereits kurz nach der Eheschließung in das Haus ihres Mannes über, da die Schwiegereltern großen Druck ausüben, weil sie die Arbeitskraft der jungen Frau benötigen. Besser behandelt werden Mädchen, die aus wohlhabenden Elternhäusern stammen. Sie bleiben gewöhnlich noch lange zu Hause wohnen, und der junge Mann muß bei seinen Schwiegereltern arbeiten kommen. Diese Frauen werden dann von ihren Schwiegereltern auch besser behandelt. Mein Vetter Ula war ein solcher Mann, der das einzige Kind einer recht wohlhabenden Familie geheiratet hatte. Ula wollte am liebsten immer bei seinen Schwiegereltern arbeiten, da er dann auch in der Nähe seiner Frau war. Als er aber nach drei Monaten immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt war, ging seine Mutter ihn holen und machte ein höllisches Theater. Schließlich wurde das Ula zu viel, und er wollte am liebsten in Kathmandu bleiben und sich um einen Trägerjob bemühen. Dann hätte er wenigstens seine Ruhe und stünde nicht immer zwischen Schwiegermutter und eigener Mutter.

Oft haben es aber auch die Mütter nicht gerne, wenn ihr jüngster Sohn ein Mädchen aus einer wohlhabenden Familie heiratet. Sie sehen dann nämlich später ihre Autorität in Gefahr. Ein solches Mädchen kann meist nämlich nicht so herumkommandiert werden, sondern versucht stattdessen, selbst mehr mitzusprechen.

Bei der Suche nach einer Schwiegertochter spielt die Persönlichkeit des Mädchens meist gar keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. In erster Linie geht es um den Gewinn einer zusätzlichen Arbeitskraft. Daher kommt es besonders auf die körperliche Stärke und Gesundheit sowie auf den Fleiß des Mädchens an. Der Charakter wird erst später hinterfragt. Am liebsten haben es die Leute, wenn die zukünftige Schwiegertochter für drei arbeiten kann.

Für die Auswahl eines Schwiegersohnes ist der Charakter des Vaters, aber auch der des Jungen von besonderer Wichtigkeit. Auch der Fleiß des Jungen und die wirtschaftliche Lage und die eventuellen Schulden der Familie spielen eine Rolle. Wichtig ist natürlich auch, wieviel Land die Familie des Jungen besitzt und wieviele Brüder er noch hat. Sehr gefragt sind auch Schwiegersöhne, die lesen und schreiben können. Die waren in meiner Kindheit und Jugend noch sehr rar.

Eine Heirat ist durchaus nicht immer als etwas Endgültiges zu betrachten. Vielen geht es auch nur um einen Anlaß zum Feiern. Vor diesem Hintergrund ist die hohe Scheidungsrate – fast jede zweite Ehe wird geschieden – bei den Sherpa eine logische Konsequenz.

Ehebruch

Die Sherpa-Gesellschaft wird von europäischen Forschern häufig als eine sexuell freie Gesellschaft geschildert. Dem möchte ich folgende Schilderung entgegenhalten, in der beschrieben wird, wie Ehebruch nach dem Gewohnheitsrecht der Sherpa bestraft wurde, bzw. wie die betroffenen Ehepartner sich selbst wehrten.

Wenn ein Fall von Ehebruch aufgedeckt wurde, so wurde immer nur der beteiligte Mann zur Rechenschaft gezogen. Der rechtmäßige Ehemann der am Ehebruch beteiligten Frau hatte das Recht, den ehebrecherischen Mann auszupeitschen. Bei diesem Strafvollzug durften immer nur Männer anwesend sein. Der zu bestrafende Mann wurde mit den Händen an einem Baumast festgebunden, so daß er sich nicht wehren konnte. Der gehörnte Ehemann durfte ihm bis zu vierzig Peitschenhiebe verpassen. Das Opfer hatte anschließend immer eine Zeit lang unter den mehr oder weniger starken Verletzungen zu leiden. In einem Fall traute sich das Opfer nicht mehr, in der Dorfgesellschaft in Erscheinung zu treten. Der Mann verließ seine Heimat und ging nach Indien.

Es ereignete sich ein anderer Fall, bei dem ein verheirateter Mann mit einer unverheirateten Frau Ehebruch beging. In einem solchen Fall lief der Mann natürlich keine Gefahr ausgepeitscht zu werden, doch war er diesmal der Rache seiner Ehefrau ausgesetzt. Diese lockte ihn unter einem Vorwand ins Untergeschoß des Hauses, wo sie die Tür verriegelte. Dann ließ sie ihre ganze Wut an ihrem Mann aus und trat ihn, wohin auch immer sie konnte. Laut ihrer Aussage versuchte ihr Mann gar nicht, sich zu wehren. Von draußen waren aber ständig seine Schreie zu hören: "Hilfe, Schwiegervater! Hilfe!" Auf Bitten ihres Vaters hörte die Frau dann irgendwann auf, auf ihren Ehemann einzuschlagen und öffnete wieder die Tür. Dann begab sie sich zu dem Mädchen, mit dem ihr Mann Ehebruch begangen hatte. Sie rieb den Genitalbereich der jungen Frau mit reifen Paprikaschoten ein, zerrte sie an den Haaren und schlug sie windelweich. Auch das Mädchen wehrte sich nicht, doch bot sie der Frau 15 Rupien an. Das wäre der übliche Preis gewesen, der bei einem solchen Ehebruch von Frauen zu zahlen gewesen wäre. Doch die betrogene Ehefrau wollte das Geld nicht, sondern nur ihre Rache. Andere Frauen standen dabei und klatschten Beifall. Das Mädchen stand noch nach einigen Tagen an einem Baum und fächerte sich Wind zu.

Ein Mann heiratet zwei Frauen

Im Dorf lebte ein Ehepaar, das lange Jahre kinderlos blieb. Natürlich war klar, daß dies an der Frau lag. Also heiratete der Mann zusätzlich ein junges Mädchen, eine Nichte seiner Frau. Auf solche Dinge ließen sich nur arme, dumme oder körperlich behinderte Frauen ein. In diesem Fall war das Mädchen sehr arm. Natürlich wurde die Eheschließung ohne großen Pomp vollzogen. Das Mädchen versuchte, sich der Heirat zu widersetzen, doch übte ihre Tante einen so großen Druck auf sie aus, daß sie schließlich einwilligte. Letztlich freute sie sich doch und lief ganz schnell voraus zu unserem Dorf.

Ihre Tante hatte eigentlich geplant, nach der Zweitheirat ihres Mannes ins Kloster zu gehen. Doch dann zeigte sich, daß sie psychisch mit der Situation nicht fertig wurde. Als sie eines Nachts zu einem nahen Felsabhang ging, folgte ihr die Nichte und konnte gerade noch verhindern, daß sie Selbstmord beging. Nun erkannte die junge Frau, daß die Doppelheirat doch nicht ideal war, und wurde darüber selbst sehr krank. In dieser Situation nahm mein Vater sie und trug sie zu ihrem Elternhaus im Nachbardorf. Später ist sie dann selbst ins Takshindu-Kloster gegangen, wo sie noch heute lebt. Interessant für mich war, daß die Erzählungen der Dorfleute damals die Geschichte ganz anders wiedergaben; dort hatte man sich sehr abfällig über die junge Frau geäußert und den Vorfall ins Lächerliche gezogen.

Es gab im Dorf auch noch andere Männer, die mit zwei Frauen verheiratet waren. In einem Fall hatte eine Frau bereits ein Kind in die Ehe mitgebracht, doch war dieses Kind bald darauf gestorben. Kurz nach ihrer Heirat, spielte ich einmal mit einer Freundin in der Nähe dieser Leute; wir waren damals noch Kinder. Da sagte der Mann in Gegenwart seiner Frau zu meiner Freundin, sie sei so schön, sie solle seine zweite Frau werden. Ich fand das sehr lächerlich, da wir noch klein waren und mit Rhododendronblüten spielten. Es wunderte mich aber, daß seine Frau ihm nicht widersprach.

Einige Zeit später bekam das Ehepaar einen Sohn, doch reichte dem Mann das offensichtlich nicht. Jedenfalls beschloß er bald darauf, ein anderes junges Mädchen zu heiraten; es muß eine Schwester oder Nichte seiner ersten Frau gewesen sein. Die drei lebten fortan zusammen. Schon vor der zweiten Eheschließung kam der Mann hin und wieder abends mit dem jungen Mädchen zu unserer Hütte und übernachtete bei uns.

Eines Abends kam die junge Frau zu meiner Mutter und fragte, ob ich bei ihr übernachten könne. Sie sei alleine zu Hause und habe Angst. Mutter willigte ein, und so schlief ich bei Lhami – so hieß die junge Frau – in der Hütte der Nachbarn. Früh am nächsten Morgen – wir schliefen noch – kam die ältere Frau. Da bin ich aufgestanden und nach Hause gegangen. Einige Zeit später sollte dann die Heirat zwischen dem Mann und Lhami vollzogen werden. Damals waren gerade Leute aus Pikyongma mit ihren Tieren bei uns, da hier sehr frisches und nahrhaftes Gras wuchs. Darunter war auch eine junge Frau, die mir erzählte, daß eine Heirat im Dorf stattfände, und sie forderte mich auf, mit ihr dorthin zu gehen. Mutter hatte nichts einzuwenden, und so machten wir uns auf den Weg. Als wir zu der Hütte kamen, in der die Hochzeit gefeiert werden sollte, war die Braut verschwunden. Die junge Frau aus Pikyongma hatte mit Lhami gesprochen und ihr eingeredet, wie dumm es doch sei, eine Ehe als Zweitfrau einzugehen. Lhami hatte sich dies offensichtlich zu Herzen genommen und sich versteckt. Die Leute in der Hütte hatten erfahren, daß die junge Frau aus Pikyongma an diesem Verhalten Lhamis schuld war. Wir erhielten zwar etwas zu essen, doch wurden wir die ganze Zeit über ausgeschimpft. Schließlich war ich sehr froh, als wir das Haus wieder verlassen konnten. Die Hochzeit konnte an dem Tag jedoch nicht stattfinden.

Später war unser ganzes Dorf auf einem Totenfest in Deku. Ein Mann aus dem Dorf war in Indien gestorben. Sein Bruder hatte die Nachricht aus Indien gebracht und ein zweites Totenfest in Deku arrangiert. Auf einmal sahen wir, daß in unserem Dorf am gegenüberliegenden Berghang ein Haus in hellen Flammen stand. Während die Frau, der das Haus gehörte, in Tränen ausbrach, machte sich ihr Ehemann mit einigen anderen Männern des Dorfes sofort auf den Weg dorthin, wohlwissend, daß sie viel zu spät dort ankommen würden. Die meisten Leute aber, es mögen um die 100 gewesen sein, haben die kommende Nacht auf Laub im Untergeschoß des Hauses in Deku geschlafen. Ich erinnere mich noch genau, daß sich der Mann mit den zwei Frauen wie ein Pascha aufführte und befahl, daß die beiden Frauen zu seiner Rechten und Linken schlafen sollten.

Am nächsten Tag gingen wir alle wieder zu unserem Dorf zurück. Unterwegs wurden die üblichen Scherze getrieben. So hob einer der Männer einer jungen Frau von hinten den Rock hoch, so daß man ihr weißes Gesäß sehen konnte. Dies rief allseits schallendes Gelächter hervor, an dem sich auch die Ehefrau des Mannes beteiligte. Das Mädchen tat so, als wolle sie große Steinbrocken nach dem Mann werfen, doch warf sie absichtlich immer so, daß sie ihn nicht traf. Im Dorf angekommen, inspizierten alle das abgebrannte Haus. Die Eigentümerin weinte, und ihr Mann versuchte, sie zu trösten. Die Leute erzählten, daß dies schon das zweite Mal sei, daß ein Haus dieser Familie abgebrannt sei. An das erste Mal konnte ich mich aber nicht erinnern.

Irgendwann im Monsun kam der Mann, der zwei Frauen hatte, zu meinem Onkel, der schon zweimal geschieden war, und bot ihm die jüngere der beiden Frauen als Ehefrau an. Mein Onkel durchschaute ihn aber; er nahm an, daß er ihn hinterher nur auspeitschen lassen wollte. Also lehnte er dankend ab. Die beiden Männer wollten von mir – ich war damals mit meinem Onkel in der Hütte – die Milch haben, die ich gerade von unserer Kuh gemolken hatte. Ich sagte, das ginge nicht, da ich die Milch für das kleine Baby zu meiner Mutter bringen wolle. Die beiden Männer beschimpften mich daraufhin als "böse Stiefmutter". Dann unterhielten sich die Männer weiter über ihre sexuellen Dinge. So erzählte mein Onkel, vor einiger Zeit sei eine Cousine des anderen Mannes gekommen und habe im Dunkeln kleine Steinchen nach ihm geworfen, als er gerade mit den Tieren beschäftigt war. Er sei nachschauen gegangen, wer denn da wäre. Als er die Frau gesehen habe, habe er ihr etwas zu essen angeboten, sie habe aber nur das Eine von ihm gewollt, und er sei auch nicht abgeneigt gewesen. Kurze Zeit später sei dann der andere Mann mit seiner jüngeren Frau vorbeigekommen und habe nach einer Fackel gefragt, um den Weg zu beleuchten. Der Onkel habe sich sehr beeilt, ihnen die Fackel hinauszubringen, da er Sorge gehabt habe, die Frau könne unterdessen weggehen.

Nachdem der Mann bereits fast acht oder zehn Jahre mit den zwei Frauen zusammengelebt hatte, wurde die Heirat mit der jüngeren Frau endlich auch formell gefeiert. Hochzeitsgäste waren nur die beiden älteren Brüder des Mannes. Der Mann ritt auf einem Pferd, das er von einem seiner Brüder geliehen hatte, zum Elternhaus der jungen Frau. Er fiel jedoch mehrmals vom Pferd hinunter, weil er total betrunken war. Bei uns im Dorf fand auch gerade eine Hochzeit statt, und als der kleine Zug auf dem Rückweg dort vorbeikam, machte man halt und feierte mit. Die beiden Frauen jedoch gingen bereits voraus ins Nachbardorf. Irgendwann, mitten in der Nacht, kam jemand aus dem Nachbardorf gelaufen und sagte, der Mann solle sofort kommen; seine jüngere Frau sei sehr krank und liege im Sterben. Obgleich er kaum noch gehen konnte, machte sich der Mann sofort mit dem Pferd auf den Weg und nahm auch in Kauf, daß er erneut mehrfach stürzte. Zu Hause angekommen, stellte er fest, daß seine erste Frau ihre jüngere Konkurrentin offensichtlich hatte aus dem Weg räumen wollen. Sie hatte kleine Teigbällchen gebacken und das Bällchen, das sie dann der jungen Frau gegeben hatte, vergiftet. Die junge Frau hatte gemerkt, daß ihr Teigbällchen seltsam schmeckte und hatte daher zwei anwesende Nichten davon probieren lassen wollen. Doch die ältere Frau war blitzschnell dazwischengesprungen und hatte ihr die Reste des Teigbällchens aus der Hand geschlagen. Diese Reste fraß ein kleiner Hund, der am nächsten Tag sehr krank war, aber überlebte. Die junge Frau stürzte aus dem Haus und schrie nach ihrem Schwager: die ältere Schwester habe sie vergiftet. Der Schwager kam sofort gelaufen, ließ sich Hundekot bringen, den er verflüssigte und der Frau in den Mund einflößte. Die Frau mußte sich anschließend derart übergeben, daß der gesamte Magen entleert wurde. So wurde ihr Leben gerettet. Die ältere Frau lag unterdessen im Bett und heulte. Der Mann hat danach noch lange Jahre mit seinen beiden Frauen zusammengelebt, ohne daß die jüngere Frau schwanger wurde. Das geschah seltsamerweise erst, nachdem die ältere Frau viele Jahre später doch fortgegangen war.

Das Mädchen Dali

Nach Deku wurde einmal ein Mädchen namens Dali verheiratet. Nach einiger Zeit hatte sie kein Interesse mehr an dem Mann, mit dem ihre Eltern sie verheiratet hatten. Sie weigerte sich fortan, die Ehe fortzusetzen. Sie erklärte sich aber selbst bereit, den Brautpreis zurückzuzahlen. Dafür nahm sie es auf sich, für zwei Jahre bei einer anderen Familie als Magd zu arbeiten und die Tiere zu hüten.

Später heiratete sie einen Sohn ihres Arbeitgebers, der wesentlich jünger als sie war. Er war damals fast noch ein Kind. Nach einiger Zeit ging auch diese Ehe in die Brüche. An Dali wird der Zwang deutlich, der auf vielen Mädchen lastet, die eigentlich gar nicht von ihrem Elternhaus wegwollen, von ihren Eltern aber zwangsweise verheiratet werden. Diese Mädchen setzen dann später meist doch ihren eigenen Kopf durch, was zur Folge hat, daß bis zu drei Scheidungen keine Seltenheit sind.

Dorfereignisse

Einmal kam ein fremder Hahn in unser Haus stolziert. Das war kein großes Problem für ihn, da die Haustür den ganzen Tag über offenstand. Vater wollte den Hahn verscheuchen, damit er nichts schmutzig machte. Er nahm daher einen Maiskolben und warf damit nach dem Hahn. Der war aber zu blöde auszuweichen. Er wurde am Kopf getroffen und blieb leblos auf dem Boden liegen. Wir nahmen etwas heißes Wasser, um den Hahn zu rupfen. Der Hahn gehörte der Nachbarin, die unseren Vater immer wegen seiner angeblich zu großen Mitgift beneidete. Wir sagten ihr nicht, was geschehen war. Sie muß wohl angenommen haben, ein Fuchs habe ihren Hahn geraubt.

Ein alter Witwer erzählte einmal entsetzt, es gäbe da zwei Sherpa, einen aus unserem und einen aus dem Nachbardorf, die mit den Männern das gleiche machen wollten, was immer mit den Ziegenböcken und Bullen gemacht würde. Damit meinte er die Kastration. Bei Ziegenböcken, die geschlachtet werden und daher viel Fleisch ansetzen sollten, und bei Bullen wurden nämlich die Samendrüsen ohne Betäubung abgeschnitten, gekocht und von den Männern gegessen. Es machte den Männern offensichtlich nichts aus, daß die Tiere fürchterlich brüllten. Die Wunde wurde hinterher einfach zugenäht. Ich habe mich immer gewundert, daß die Tiere das überlebten. Es war daher nicht verwunderlich, daß alle Männer des Dorfes diese Maßnahme nicht an ihrem Körper durchführen lassen wollten.

Bei einer Frau in Setlanga war einmal ein Gurung zu Besuch. Die Familie hatte gerade Nudelsuppe gekocht. Eine Tochter forderte die Mutter auf, doch einen Aluminiumlöffel zum Ausschöpfen der Suppe zu benutzen, da es hieß, daß Gurung keine Suppe essen, die mit einem Holzlöffel geschöpft wurde. Dennoch steckte ihre Mutter absichtlich ganz schnell einen Holzlöffel in den Suppentopf. Die Tochter wurde so wütend, daß sie ihre Mutter verfluchte, sie möge an der Pest sterben. Die Mutter sagte nichts. Die Familie konnte ihre Suppe alleine auslöffeln. Der Gurung aß nichts davon. Er erhielt ein paar in der Glut gebackene Kartoffeln.

Semgyi mendok sharsung (Gedankenblüten sind aufgegangen)1 (Gedankenblüten sind aufgegangen)1

Ein junger Mann, er war sicherlich noch keine zwanzig Jahre alt, wurde von seiner Familie für ein Jahr zum Arbeiten zu einer anderen Familie weggegeben. Er war der jüngste von vier Söhnen, und seiner Familie ging es wirtschaftlich nicht gut. Eines Tages nahmen seine Arbeitgeber ihn als Träger einer Ladung Butter mit nach Namche in Khumbu. Von dort schickten sie ihn wieder nach Hause zurück, wo er jedoch nicht ankam. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Es wurde damals vermutet, daß er mit Khumbu-Leuten oder Europäern nach Kathmandu gegangen sein könnte. Natürlich war auch ein Gewaltverbrechen nicht ganz auszuschließen. Obgleich sich die Mutter des jungen Mannes große Sorgen machte, kam die Mutter seines Arbeitgebers und schimpfte sie auch noch aus.

Solche Vorfälle waren gar nicht so selten. Viele junge Leute liefen ganz einfach von zu Hause weg; sie kamen dann in den meisten Fällen nach einigen Jahren wieder zurück. In anderen Fällen aber war ein Motiv nicht erkennbar. Ein solcher Fall war auch Dawa. Er war ein recht einfältiger junger Mann. Als er eines Tages nicht mehr nach Hause kam, vermuteten die Leute daher, er habe die Orientierung verloren und den Weg nicht mehr gefunden.

Ein anderer Fall ereignete sich im Nachbardorf. Auch dort verschwand ein junger Mann spurlos. Hier vermutete man, daß er wie viele junge Sherpa nach Indien gegangen sein könnte. Ziel war dort meist das Darjeeling-Gebiet. Die Leute kamen oft nach einigen Jahren mit Kleidung und anderen Dingen in die Dörfer zurück. Dann wurden sie bewundert und waren das ganz große Gesprächsthema. Viele Männer, die fünf und mehr Jahre in Indien gewesen waren, ohne daß man je wieder etwas von ihnen gehört hatte, wunderten sich oft, daß ihre Ehefrauen sich zwischenzeitlich einen anderen Mann gesucht hatten. Dann kam es zu großen Eifersuchtsszenen, bei denen die Frauen sogar ausgepeitscht worden sind. In den meisten Fällen hielt es Leute, die in Indien gewesen waren, aber nicht lange im Dorf. Wer einmal weggegangen war, der ging meist immer wieder von neuem weg. Von Darjeeling kamen daher häufig Leute zurück in die Dörfer. Doch keiner von ihnen hatte den jungen Mann gesehen. Er blieb für immer verschwunden. Es gab daher auch Gerüchte, der junge Mann könnte ermordet worden sein.

Großmutters Schwager und Neffe aus Chulemo waren als Steinmetze tätig. Sie wurden in der ganzen Gegend von den Leuten in Anspruch genommen, wenn chorten (stupa) oder mani (Gebetstafeln mit eingemeißelten Texten, entweder auf Naturfels oder in Form künstlicher Mauern) zu errichten waren. Das war meist der Fall, wenn irgendwo jemand ernsthaft erkrankt war. Eines Tages verließ auch dieser Neffe sein Heimatdorf. Man wußte, wohin er gegangen war, weil ihm einige Leute unterwegs begegnet waren. Doch dann hat man viele Jahre überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Möglicherweise hatte sein Geld nie gereicht, um wieder nach Hause zurückzukommen. Seine Mutter war sehr traurig darüber. Später hörte ich, daß er nach vielen Jahren doch wieder heimgekehrt wäre. Seine Mutter muß sich darüber so sehr gefreut haben, daß sie kurz darauf gestorben ist.

In Yawa war ein junger Mann mit einer wesentlich älteren kränklichen Witwe verheiratet worden, die bereits eine erwachsene Tochter hatte. Aus dieser Ehe wurde eine weitere Tochter geboren. Irgenwann ging dieser Mann mit seiner Frau und der erwachsenen Stieftochter nach Indien. Die kleine Tochter, das Haus und das ganze Hab und Gut ließen sie bei seinen Eltern zurück, als sie feierlich verabschiedet wurden. Sie wurden nie wieder gesehen. Es ging das Gerücht um, die Eltern hätten ihren Sohn absichtlich nach Indien geschickt, weil sie Angst gehabt hätten, daß seine Frau sterben könne und er sich dann verschulden würde. Sie hätten insgeheim gedacht, der Sohn würde nach dem Tod seiner Frau wieder nach Hause zurückkehren.

Krumme Geschäfte

Vater kaufte einmal in Ringmo zwei Kälber. Von dort machten wir uns auf den Heimweg. Bis zum Takshindu-Paß ging auch alles ganz problemlos. Doch als es dann bergab ging, konnte das eine Kalb überhaupt nicht mehr laufen, während das andere ständig stürzte. Bereits am Takshindu-Kloster hatte mein Vater genug. Das eine Kalb hinkte nämlich, und das andere war blind. Daher hatten sie solche Schwierigkeiten beim Bergablaufen. Zunächst waren uns diese Mißbildungen der Tiere nicht aufgefallen. Wir machten kehrt und gingen nach Ringmo zurück. Der Verkäufer unternahm auch gar keinen Versuch, die Mängel zu bestreiten. Der Kauf wurde kurzerhand rückgängig gemacht und der Schuldschein zerrissen.

Einmal kam ein Mann aus Kharikhola zu uns. Er hatte sich bei anderen Leuten schöne neue Kleidung geliehen, damit er auch recht wohlhabend aussähe. Er bat Vater, ihm acht Ziegen zu verkaufen. Vater sah keinen Grund, sich ein solches Geschäft mit einem offensichtlich nicht armen Mann entgehen zu lassen. Also wurde ein Schuldschein ausgestellt, und der Mann zog mit den Ziegen davon. Später stellte sich heraus, daß der Mann nur eine kleine Hütte besaß. Seine Frau und seine Kinder hatten nicht einmal genug zu essen, wie Vater uns berichtete, als er versuchte, das Geld einzutreiben. Irgendwann hat Vater diese Versuche aufgegeben, da er einsah, daß dort eh nichts zu holen war.

Eines Abends kam ein Mann aus dem Dorf und schlug meinen Eltern vor, seine jungen Kälber gegen unsere alten zom (Kreuzung zwischen yak und Rind) zu tauschen. Meine Eltern waren natürlich nicht abgeneigt und gingen mit ihm zu seinem Haus. Dort trafen sie noch zwei ältere Brüder des Mannes an und auch jenen oben erwähnten Mann aus Kharikhola. Meine Eltern waren sehr überrascht, diese Leute alle dort anzutreffen. Auf einmal hieß es nun, der Mann aus Kharikhola, der wieder gute Kleidung trug, werde die Tiere meiner Eltern kaufen. Obwohl die Eltern etwas verwirrt waren, machten sie das Geschäft weiter mit. Dann zeigte sich aber, daß der Mann aus Kharikhola gar nicht mit unseren Tieren weggehen wollte. Meinen Eltern wurde bewußt, daß sie von den drei Brüdern übers Ohr gehauen werden sollten. Just in diesem Augenblick kam jemand aus Yawa vorbei, der mitbekam, was dort ablief. Er ging daher ins Dorf und kam mit mehreren Männern zurück. Nun sahen sich die drei Brüder unter Druck gesetzt und machten das faule Geschäft wieder rückgängig. Beinahe wären wir völlig verarmt gewesen. Die drei Brüder hatten sich alle unsere Tiere aneignen wollen, ohne auch nur eine Rupie dafür zu bezahlen.

Sie waren ohnehin sehr berüchtigt. So hatten sie einmal ihrem eigenen Vater einen Ziegenbock gestohlen und diesen geschlachtet. Als ihr alter Vater sie zur Rede stellen wollte, hatten sie ihn ausgepeitscht. Ein anderes Mal hatte mein Großvater festgestellt, daß Mais von unserem Feld – wir waren damals gerade auf den Almen – gestohlen worden war. Da die Diebe deutliche Spuren hinterlassen hatten, ging Großvater ihnen nach. Die Spur endete am Haus von einem dieser Brüder. Als mein Großvater ihn zur Rede stellen wollte, tat er zunächst so, als schäme er sich und schlug dann auf Großvater ein. Später wurde jedoch eine Art Versöhnungsfest gefeiert.

Die eifersüchtigen Arbeitgeberinnen

Einst ging ich mit meinem Bruder in die Wälder, um Laub zu sammeln. Unterwegs trafen wir ein junges Kami-Mädchen, das uns ansprach. Sie redete wie ein Wasserfall in Nepali, so daß wir Mühe hatten, ihrer Erzählung zu folgen. Unter anderem sagte sie, daß sie von ihrer Arbeitgeberin mit einem Holzscheit geschlagen worden sei. Die Arbeitgeberin hatte sie verdächtigt, mit ihrem Mann ein Verhältnis zu haben. Das Mädchen wollte nicht noch mehr geschlagen werden; daher hatte es ihre Beziehung zu dem Mann zugegeben. Sie hatte sich ihm hingegeben, als die Arbeitgeberin zum Wochenmarkt gegangen war und diese Gelegenheit dazu genutzt hatte, ein paar Tage in ihrem Elternhaus zu verbringen. Das Mädchen sagte weiter: "Nani petma cha (Ich habe ein Baby im Bauch)." Der Vater dieses Kindes sei ihr Arbeitgeber. Das Kami-Mädchen durfte trotz allem noch ein paar Monate für die Leute arbeiten. Natürlich wurden alle unangenehmen Tätigkeiten auf sie abgewälzt. Daher sammelte sie jetzt Holz für diese Leute. Irgendwann mußte sie dann doch wegen des Geredes der Leute weggehen. Später trafen andere Leute sie in Pharak, als sie bereits hochschwanger war. Auch diesen Leuten erzählte sie ihre Geschichte. Sie hatte in Pharak eine neue Anstellung gefunden. Es war bekannt, daß die Leute in Pharak nicht so konservativ waren wie die in Shorong.

In einem anderen Fall lebte eine großgewachsene Sherpa-Frau als Magd bei einer anderen Sherpa-Familie. Die Frau war bereits so alt, daß sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Im Sommer wurde sie mit den Tieren auf die Almen geschickt. Alle paar Wochen brachte ihr Arbeitgeber ihr die gyawi (Lebensmittel) aus dem Dorf hinauf auf die Hochweiden. Seine Frau hatte den Verdacht, daß ihr Mann ein Verhältnis zu der Magd auf den Almen haben könnte. Daher ging sie eines Tages anstelle ihres Mannes mit einer anderen Bediensteten zu der Frau auf die Weiden. Dort angekommen, ließ sie sich die alte Kleidung der Magd geben, um die Tiere zu melken. Die Kühe riechen nämlich an der Kleidung der Menschen, die sie melken. So entsteht eine gewisse Beziehung zwischen Tier und Mensch. Schließlich lassen sich die Kühe nur noch von ihren Vertrauenspersonen melken. In diesem Fall ließen sich die Tiere auch von der Arbeitgeberin melken, da diese die Kleidung ihrer Bezugsperson trug. Genau das wollte die Arbeitgeberin feststellen, um die Magd zur Rede stellen zu können. Nun fragte sie die Magd frei heraus, ob sie ein Verhältnis mit ihrem Mann habe. Als die Magd nicht antwortete, schlug ihre Arbeitgeberin mit einem Stock auf sie ein und wurde dabei von der anderen Bediensteten unterstützt. Nun gab die Magd zu, daß sie eine Beziehung zu ihrem Arbeitgeber hatte, wenn dieser auf die Hochweiden kam. Alleine hätte die Arbeitgeberin sicher keine Chance gehabt, da die Magd sehr stark war. Weglaufen konnte sie nicht. So mußte sie derart heftige Schäge einstecken, daß sie sich eine Woche lang nicht mehr rühren konnte. Natürlich hätte die Arbeitgeberin auch ihren Mann fragen können. Eigentlich hätte er die Schläge am ehesten verdient. Man hatte oft den Eindruck, daß sich die Männer wie Tiere verhielten. Viele von ihnen nahmen jede Gelegenheit zu einer außerehelichen Beziehung wahr, unabhängig vom Alter und der Schönheit der jeweiligen Partnerin.

Die Magd hatte einen einzigen Sohn namens Nyima, der einmal mit seinem Vetter spielte. Im benachbarten Haus eines Onkels fand gerade eine Hochzeit statt. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber ich hatte plötzlich die Idee, die Leute könnten Nyima vergiften. Warum war der Ämste nur gekommen? Das war in einer Vollmondnacht im Monat mangsir (November-Dezember). Tatsächlich starb Nyima im Monat baisakh (April-Mai), also fünf Monate später. Die Mönche, bei denen Nyima aufwuchs, schickten jemanden zu seiner Mutter, um sie zu benachrichtigen und zu den Verbrennungsriten zu holen. Sie sah ihren Sohn nur noch auf dem Scheiterhaufen.

Die Leute erzählten damals die Geschichte dieser Familie. Der Vater von Nyima war früh gestorben, als Nyima noch ein Baby war. Dann hatte die Verwandtschaft seiner Mutter nächtelang fremde junge Männer in ihr Haus geschickt, die sie nicht schlafen ließen. In der Sherpa-Sprache sagt man dazu nyen. Dieses Wort hat mancherlei Bedeutung wie ärgern, quälen, peinigen, randalieren, Sachen entwenden, vergewaltigen, schimpfen usw. Die junge Frau wußte nicht, wer hinter dieser Aktion stand. So wandte sie sich hilfesuchend an ihre Verwandtschaft, also an die Drahtzieher der Aktion. Diese sagten, sie solle doch zu ihnen kommen. So nahm die junge Frau ihre gesamte Habe und die Tiere und zog zur Verwandtschaft. Nur das Haus und das große Grundstück ließ sie zurück. Einer ihrer Vetter verpachtete das Land und steckte alljährlich die Pacht in seine eigene Tasche. Die Tiere teilten ihre drei Vetter untereinander auf. Die junge Frau mußte als Magd arbeiten gehen. Die Mönche erkannten das Unrecht, das hier geschah, und nahmen Nyima bei sich auf. Sie sagten, wenn er erwachsen sei, könne er sein Recht einfordern. Natürlich erfolgte die Erziehung des Jungen auf Kosten der Mönche. Eines Tages gingen mehrere Mönche mit Nyima zu seiner "lieben Verwandtschaft" und forderten 700 Rupien, was damals eine Menge Geld war. Die Männer der Verwandtschaft hatten jedoch von der Aktion der Mönche erfahren und machten sich rechtzeitig aus dem Staub. Nur die Frauen waren anwesend, als die Mönche kamen. Diese machten sich auf die Suche und fanden in den Wäldern Töpfe und Pfannen. Schließlich trafen sie auch die Männer, die sich bereit erklärten, den geforderten Betrag zu zahlen. Sie wußten nämlich genau, daß die Mönche sonst die Polizei holen würden.

Die alte Witwe

Eine alte Witwe hatte vier Söhne und eine Tochter. Die Tochter war in Taljangma mit einem Schreiner verheiratet. Meist kam sie für etwa acht Monate ins Dorf, um als Tagelöhnerin bei anderen Leuten zu arbeiten, da sie nie genug zu essen hatten. In dieser Zeit wohnte sie stets bei ihrer Mutter. Als Kind mußte ich oft diese alte Witwe lausen und ihr die grauen Haare ausziehen und auf die Handfläche legen. Mutter hatte mir eigentlich verboten, bei anderen Leuten auf dem Kopf herumzuwühlen, weil ich sonst auch solch einen schlechten Charakter bekäme wie diese. Deshalb hatte ich immer angenommen, der schlechte Charakter müsse unter dem dicken Zopf der Frau sitzen, wo es meist übel roch, weil diese Stelle selten gereinigt und häufig mit Butter eingerieben wurde. Daher mied ich diese Stelle und suchte die Läuse hinter den Ohren und oben auf der Schädeldecke. Die alte Frau sagte immer, es jucke sehr stark. Die Läuse gab ich der Frau, die sie sofort in den Mund steckte und mit ihren letzten Zähnen zerknackte. "Ich habe dich, du Scheusal!", sagte sie dann stets und spuckte die Läuse mit ihrem Blut wieder aus. Da sie ihren alten Zähnen offensichtlich nicht so recht traute, schaute sie nach, ob die Läuse auch wirklich tot waren.

Wenn ich diese alte Frau lauste, erzählte sie mir viele Dinge, die sich früher ereignet hatten. So erfuhr ich einmal eine Geschichte, die mir später auch noch von anderen Frauen des Dorfes erzählt wurde. Vor langer, langer Zeit habe im Dorf ein Fest stattgefunden, zu dem viele Leute auch aus anderen Dörfern gekommen seien. Alle Leute hätten viel getrunken und sich unterhalten, und auf einmal sei ein Kopf zu Boden gefallen. Er gehörte einem Mann aus dem Nachbardorf, der immer an allen Dingen etwas auszusetzen hatte und den Leuten mit seiner Nörgelei ständig auf die Nerven ging. So muß es wohl auch bei jenem Fest gewesen sein. Da hatte ein andere Mann, der für seine Unbeherrschtheit bekannt war, in betrunkenem Zustand sein kudpa (nep. khukuri, das typische nepalische Rundmesser) genommen und dem Nörgler mit einem gezielten Hieb den Kopf abgehauen. Natürlich konnte man diese Sache nicht vertuschen. Die Leute aus dem Dorf fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und schleppten ihn nach Kathmandu. Es hieß damals, der König hätte kein Interesse an dieser Dorfgeschichte gezeigt. So brachte man den Täter wieder ins Gebirge zurück und beschloß, ihn selbst zu richten. In Tamsare wohnte ein junger Kami, der von den Männern gezwungen wurde, als Henker zu fungieren. Der Junge zitterte vor Angst, konnte aber nicht davonlaufen, da die Männer ihn mit einem Seil festgebunden hatten. Der Todeskandidat habe ihm aber Mut gemacht. Er habe ganz ruhig zu ihm gesprochen und ihn aufgefordert, die Hinrichtung mit einem gezielten Schlag auszuführen, genau wie er selbst es gemacht habe. Dafür habe er dem weinenden Jungen noch zwei Rupien gegeben. Dieser warf das Geld jedoch sofort in den Fluß. An jenem Tag, als diese Hinrichung stattfand, habe die Frau des Täters am Dorfrand gesessen und gesagt: "Heute wird ein Bock geschlachtet." Dabei habe sie unentwegt zu dem Hang hinübergeblickt, von dem sich die Gruppe dem Dorf näherte. Hin und wieder fielen ihr die Augen zu, und sie nickte kurz ein. Diese Frau hatte mit Hilfe der Dorfbevölkerung das Totenfest für ihren Mann bereits vorbereitet. Die Männer hatten gesagt, der Täter dürfe sein Dorf nicht mehr erblicken. Deshalb wurde das Urteil unterhalb des Dorfes vollstreckt. Der arme Kami-Junge mußte die Hinrichtung ausführen. Er hat diesen Schock nie wieder überwunden. Den Kopf des Hingerichteten durfte man nicht verbrennen, weil er einem Verbrecher gehörte. Er wurde daher unterhalb des Dorfes vergraben. Ansonsten wurde ein ganz normales Totenfest gefeiert. Die Familien von Opfer und Täter seien dabei erneut aufeinander losgegangen. Es hieß, wenn das Kind, das die Frau des Täters im Korb hatte, ein Junge wäre, dann wollten sie auch ihn töten. Glücklicherweise war es aber ein Mädchen.

Die Leere – der Tod als Teil des Lebens

Der Tod ist ein Ereignis, mit dem man zwar jederzeit rechnen muß, das aber dennoch meist völlig unerwartet hereinbricht. Unmittelbar nach dem Tod eines Menschen wird ein Laienlama gerufen, der dem Verstorbenen eine Art letzten Segen mit auf die Reise gibt und ihm gut zuredet, den richtigen Weg einzuschlagen. Es ist die Rede von einem schwarzen, einem weißen und einem roten Weg. Der Laienlama ermahnt den Verstorbenen, seine Seele möge weder den schwarzen noch den roten, sondern den weißen Weg gehen. Der Lama formt aus einem Papierblatt ein kleines Röhrchen, durch welches er dreimal mit der Leiche redet und ihr erklärt, daß sie unerkennbar geworden sei und nicht mehr auf dieser Welt weile. Ihre Gedanken seien nicht mehr die gleichen wie bisher. Man glaubt, daß sich der Geist des Verstorbenen in den ersten drei Tagen in einem Zustand höchsten Glückgefühls befindet. Erst dann wird ihm bewußt, daß sein Haus gestorben ist, das zerfällt, weil nun niemand mehr darin wohnt. Wenn er ruft, hört er kein Echo mehr. Und nun stellt er auch fest, daß er keinen Schatten mehr wirft, wenn die Sonne scheint, und daß er keine Fußabdrücke mehr hinterläßt. Er befindet sich in einem Zustand der Leere. Aber der Geist des Verstorbenen wird sich nun auch bewußt, daß er von Geistern verfolgt wird. Die Hinterbliebenen stellen vor dem Haus große Masten mit beschrifteten weißen Fahnen auf. Hinter diesen Fahnen kann sich der Geist des Verstorbenen verstecken, denn er ist nun nicht mehr größer als ein Reiskorn. Wir Kinder fanden es ganz toll, daß der Geist des Verstorbenen nur zu denken brauchte, er wolle zu einem bestimmten Ort, und schon war er da.2

Wenn der Laienlama seine Zeremonie beendet hat, wird der Leichnam gewaschen und in einen Sack eingenäht. Den genauen Ablauf kann ich leider nicht schildern, da Frauen hierbei nicht anwesend sein dürfen.3 Nun werden Mönche und Nonnen aus dem nahe gelegenen Kloster gerufen, die dann mit ihren Musikinstrumenten und heiligen Texten kommen und eine Totenzeremonie abhalten. Bei armen Leuten kommt oft auch nur ein Lama, der aber immer Trommel und Becken mitbringt. Die Zeremonie der Lamas zieht sich über viele Stunden hin.

Währenddessen ist die ganze Dorfbevölkerung beschäftigt, den Leichenschmaus vorzubereiten. Auch Verwandte aus anderen Dörfern werden herbeigerufen. Es ist übrigens üblich, daß man sofort alle Arbeiten auf dem Feld einstellt, wenn man von dem Tod eines Menschen im Dorf erfährt. Insbesondere Hacken werden stehenden Fußes fallengelassen, weil die Vorstellung besteht, daß auch die Erde mitstirbt. Viele Leute im Dorf weinen, obgleich der Lama immer ermahnt, dies nicht zu tun. Es heißt, die Tränen würden zu Flüssen und das Schluchzen zu Wind. Dann hätte der Geist des Verstorbenen noch mehr zu leiden.

Alle konzentrieren sich nun auf das Kochen des Totenmahls. Die hohen Kosten haben immer die Angehörigen der verstorbenen Person zu tragen. Viele Familien haben sich dabei schon völlig verschuldet. Es wird alles Eß- und Trinkbare aus dem Dorf zusammengetragen, was aber bezahlt werden muß. Besonders benötigt werden chang (Bier), Fleisch, mad (geschmolzene Butter) und geröstetes Getreide, meist Mais, Gerste oder Fingerhirse.

Dann wird das Totenmahl im Haus des Verstorbenen eingenommen. Wenn der Platz drinnen nicht ausreicht, essen einige Leute auch draußen; insbesondere wird das Essen häufig außerhalb des Hauses, meist von jungen Männern, zubereitet. Alle Anwesenden erhalten einen Teller mit Essen, auch der Verstorbene. Es besteht die Vorstellung, daß der Geist des Verstorbenen von den aufsteigenden Dämpfen des Essens zu sich nimmt und so überlebt. Die Mönche trinken im Verlauf ihrer Zeremonie keinen chang, bloß Buttertee, den sie sich selber zubereiten. Oft ekeln sie sich nämlich etwas vor dem Schmutz der Bauern.

Der Leichnam ist unterdessen auf einem freien Platz vor der Schrankwand des Hauses auf der Erde aufgebahrt worden. Es wird darauf geachtet, daß keine Katze den Leichnam berührt; Katzen werden vorsichtshalber aus dem Haus gejagt. Es besteht nämlich die Vorstellung, daß durch die Berührung der Katze ein Leichnam wieder zum Leben erweckt werden und viel Unheil anrichten kann. So etwas soll jedenfalls vor langer Zeit schon vorgekommen sein. Überhaupt wird auch die Berührung der Leiche durch Menschen möglichst vermieden.

Dann kommt der Augenblick, an dem die Leiche aus dem Haus getragen wird. Einer der Lamas beginnt zu tanzen. Er tanzt drei Runden im Zimmer herum und wirft unterdessen geweihte Getreidekörner auf den Leichnam. Der Weg, den der Tote nun nimmt, muß freigehalten werden; es darf nichts und niemand ihm im Wege stehen. Sollte doch noch jemand dort stehen, so besteht die Gefahr, daß auch er bald sterben muß. Zwei bis drei Männer, je nach dem Gewicht der Leiche, fungieren als Leichenträger. Sie kommen meist aus armen Familien und können sich auf diese Weise etwas hinzuverdienen. Diesen Leichenträgern werden mit Kohle jeweils drei schwarze Streifen auf Stirn, Nase, Kinn und Wangen gemalt. Dies bewirkt eine Schutzfunktion für die Träger; sie brauchen nun keine Angst mehr vor Erkrankungen u.ä. zu haben. Die Träger nehmen die Leiche in einer Kiepe auf den Rücken, wobei sie darauf achten, daß das Gesicht des Toten von ihnen weg nach hinten blickt. Sonst könnten die Träger doch noch krank werden. Der Lama geht voraus, dahinter geht ein Mann, der eine weiße Fahne trägt, dann folgt der Träger mit der Leiche, dann eine schwarze Fahne und dahinter Fahnen in verschiedenen anderen Farben. Diese bunten Fahnen symbolisieren die in die irre führenden Wege, die der Geist des Toten einschlagen könnte. Hinter den Fahnenträgern folgen die anderen Lamas mit den Musikinstrumenten und dann die gesamte Dorfbevölkerung, sofern sie Lust dazu hat, Männer, Frauen und Kinder. Unterwegs wird nicht angehalten, lediglich wird von Zeit zu Zeit der Leichenträger gewechselt. Wir haben auch schon erlebt, daß die Leute auf dem Weg zum Verbrennungsplatz gesungen haben.

Schließlich kommt der ganze Zug auf dem Leichenverbrennungsplatz hoch oben über dem Dorf an. Dort haben junge Männer des Dorfes bereits seit Stunden Holz zusammengetragen und einen großen Scheiterhaufen errichtet. Sofort nach Ankunft des Leichenzuges ziehen der Lama, der Träger mit der Leiche, die Fahnenträger und die Musikanten dreimal um den Scheiterhaufen herum. Dann wird die Leiche oben auf den Scheiterhaufen gelegt, und einer der Träger zündet ihn an. Während die Leiche im Feuer verbrennt, sitzen die Leute um den Platz herum und essen noch etwas von dem Essen, das sie aus dem Dorf mitgebracht haben. Es wird besonders darauf geachtet, daß der Rauch vom Scheiterhaufen senkrecht zum Himmel emporsteigt. Dann wird es den Hinterbliebenen im Dorf nämlich gutgehen. Sollte der Rauch aber hinab ins Dorf ziehen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß dort im nächsten Jahr wieder jemand sterben wird und somit Leid über die Menschen hereinbricht.

Bevor es dunkel wird, gehen alle Leute wieder ins Dorf zurück, da die Menschen sonst Angst auf dem Verbrennungsplatz haben. Um das Feuer kümmert sich niemand mehr; dennoch kann ich mich nicht erinnern, daß es einmal zu einem Waldbrand gekommen ist. Alle Menschen gehen sofort zu ihren Häusern. Arm dran sind besonders die Mönche und Nonnen, die durch die dunkle Nacht bis zu ihren Klöstern zurückgehen müssen. Am nächsten Tag geht noch einmal jemand zum Verbrennungsplatz und vergräbt die Knochenreste in irgendeiner Felsspalte.

Drei Wochen lang kommt nun ein Laienlama ins Haus und liest heilige Texte. Auf dem Platz im Haus, wo die Leiche aufgebahrt worden war, wird nun eine Puppe hingesetzt, die mit den Kleidern des Verstorbenen bekleidet ist. Vor allem bei Frauen sieht das immer sehr schön aus, wenn die Puppe mit den kostbarsten Kleidern und dem Schmuck der Verstorbenen ausstaffiert ist. Auch diese Puppe erhält bei jeder Mahlzeit ihren Anteil. Man tut so, als sei der oder die Verstorbene noch anwesend. Nach diesem symbolischen Akt wird der Teller natürlich wieder zurückgenommen und den Kindern gereicht. Nicht alle Familien können sich jedoch dieses Ritual mit dem Laienlama erlauben, da dieser nicht nur zu ernähren, sondern darüber hinaus auch noch zu bezahlen ist.

49 Tage nach dem Tode wird ein großes Totenfest gefeiert. Die ganzen Wochen zuvor laufen die Vorbereitungen für dieses Fest. Alle Familien des Dorfes spenden jeweils ein pathi (ein Hohlmaß, ca. 4,4 l) Getreide. Im Haus irgendeiner Familie des Dorfes, die sich dazu bereiterklärt hat, wird dieses Getreide zu chang verarbeitet. Darüber hinaus bringt jede Familie fünf pathi Getreide zum Haus der verstorbenen Person. Dies ist der Beitrag der Dorfgemeinschaft zum Totenfest. Auch die Familie des Toten hat nämlich noch jede Menge chang zu brauen, da bei den Sherpa kein Fest ohne chang läuft und die Sherpa bekanntlich große Mengen dieses Getränkes verkraften können.

Das Totenfest beginnt gegen Abend. Dann strömen die Leute aus dem Dorf, teilweise auch aus den Nachbardörfern, herbei. Viele sind extra benachrichtigt worden, andere kommen von alleine. Ein solches Fest ist immer ein ganz großes Ereignis, vor allem auch für die Dorfjugend. Nicht selten werden auf solchen Festen erste Kontakte für eine spätere Eheschließung getroffen. Natürlich dürfen auch die Mönche und Nonnen mit ihren Musikinstrumenten nicht fehlen. Oft haben die Diener der Lamas uns Kinder ermahnt, wir sollten nicht so laut sein. Die Mönche und Nonnen schimpfen aber auch über die älteren Männer, die nach einiger Zeit nicht mehr in der Lage sind zu beten, weil sie bereits zuviel chang getrunken haben. Letzterer wird von einem sogenannten chang-Mädchen, einer jüngeren Frau aus der Familie der verstorbenen Person, serviert. Als Belohnung erhält diese Frau nach dem Fest oft Kleidungsstücke der Verstorbenen, falls es sich dabei um, eine Frau handelt. Aus Vorsicht vor den Geistern der Verstorbenen spuckt man dreimal innen in das Kleidungsstück hinein und zieht es dann an; gewaschen wird es gewöhnlich nicht.

Bei den benötigten Massen ist es notwendig, bereits am Nachmittag mit dem Kochen anzufangen. Für die Mönche kochen manchmal auch die Nonnen. Das ist ein Grund, warum die Nonnen nicht so gerne mit den Mönchen zu den Totenzeremonien gehen, weil sie dann immer die Dreckarbeit machen müssen. Das Essen, das am Abend serviert wird, besteht aus Reis oder aus Getreidebällchen, über die Soße gegossen wird, allerdings nur für die Erwachsenen. Viele Leute bringen ihre kleinen Schälchen mit. Die Kinder halten meist ihre Schürzen, Hemden oder Kopftücher auf. Einige Leute verstehen es immer wieder, mehrere Rationen zu kassieren. Nach dem Essen beginnen die Mönche und Nonnen mit ihren Gebeten. Die Leute sitzen in Gruppen auf dem Boden und schauen dabei zu. Sie unterhalten sich etwas und trinken chang. Irgendwann später beenden die Mönche und Nonnen ihre Zeremonie. Nach und nach gehen die Leute nach Hause, meist erst, wenn sie sich vor lauter Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten können.

Am nächsten Morgen gehen die Mönche und Nonnen wieder zu ihren Klöstern zurück, es sei denn, sie werden erneut zu Gebeten aufgefordert, die dann natürlich auch erneut bezahlt werden müssen. Es wird den Mönchen und Nonnen immer wieder nachgesagt, sie würden sich freuen, wenn jemand stirbt. Aber man muß natürlich bedenken, daß dies eine der ganz wenigen Einkommensquellen für diese Menschen ist.

Im Laufe des Vormittags wird das Mittagessen zubereitet. Hierfür ist diesmal nicht die Familie des Verstorbenen sondern die Dorfgemeinschaft zuständig. Meist gibt es einen leckeren deftigen Eintopf und natürlich chang oder arak (Branntwein) dazu. Das Abendessen wird dann wieder von der Familie des Verstorbenen gestellt. Oft sind die Leute schon so betrunken, daß sie ihre seit Monaten aufgestauten Aggressionen loslassen. Die Frauen haben dann große Probleme, ihre Männer zurückzuhalten - das ist übrigens das einzige Mal, daß die Frauen des Dorfes geschlossen zusammenhalten. Manchmal kommt es zu Prügeleien zwischen den betrunkenen Männern des Dorfes, was nicht selten schwerere Verletzungen wie Knochenbrüche und Prellungen zur Folge hat.

Damit ist das Fest beendet – fast. Drei Tage später nämlich verkleiden sich zwei junge Männer als ein altes Ehepaar und machen allerlei Scherze. So schildern sie z.B. Szenen aus dem Ehealltag. Dann werden zwei kleine Geisterfiguren gemacht, die mit großen Getöse und Gejohle davongejagt und irgendwo am Wegesrand hingestellt werden. All dies sind Aufgaben, die von Männern wahrgenommen werden, so daß ich als Frau zu den Einzelheiten wenig sagen kann. Wir Frauen waren immer nur belustigte Zuschauer.

Im Laufe des folgenden Jahres können die Familienangehörigen dann noch ein paar gute Werke zugunsten des Verstorbenen tun. So können sie z.B. im Tempel eine Butterlampe für den Verstorbenen aufstellen. Oder aber sie machen Dinge, die der Allgemeinheit zugute kommen, z.B. Restaurierung oder Neubau von Brücken oder Ausbesserung von Rastplätzen.

Die Voraussagung

Ein junger Mann aus einem nahe gelegenen Dorf war nach eigener Aussage seiner Frau davongelaufen. In der Folgezeit arbeitete er hier und da ein paar Tage, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jedenfalls hatte er so immer genug zu essen. Nachdem er während des Monsun auch einige Wochen in unserem Dorf gearbeitet hatte, begab er sich in ein anderes Dorf jenseits des Passes.

Dort verdingte er sich wieder bei irgendeiner Familie, die unterhalb des Dorfes in der Nähe des Flußufers wohnte. Er hatte einen Blick auf eine Tochter des Hauses geworfen, doch wollte diese nichts von ihm wissen. Es kam zu einem größeren Streit, der mit dem Rausschmiß des jungen Mannes endete. Daraufhin kletterte der Mann auf einen großen Ahornbaum, der neben einer Quelle stand. Solche Bäume gelten als heilig und dürfen nicht geschnitten werden. Die Leute liefen hinter ihm her und schimpften, er solle sofort wieder von dem Baum herabsteigen.

Oben auf dem Baum angekommen, verfiel der Mann jedoch in eine Art Trance und rüttelte an den Ästen, an denen er sich festklammerte. Dann stieß er eine Verwünschung aus, die alle Umstehenden laut und deutlich hören konnten: "In drei Tagen werdet ihr durch eine Überschwemmung vernichtet werden!" Schließlich stieg der junge Mann doch wieder vom Baum herab und ging davon. Niemand weiß, wohin er gegangen ist.

Den Leuten war nach diesem Ereignis nicht so ganz wohl zumute. Offensichtlich besaß dieser Mann schamanistische Eigenschaften, und derartige Voraussagen wurden durchaus ernst genommen. Aber so recht wollte man doch nicht daran glauben, da keinerlei Anzeichen für eine Überschwemmung erkennbar waren.

Am dritten Tag dachte kaum noch jemand an die Voraussagung des jungen Mannes. Da geschah es, daß in der Nacht eine große Flutwelle vom oberhalb gelegenen Womi Tso oder Dudh Kund, dem heiligen Milchsee, zu Tal stürzte. Diese Flutwelle riß alles mit, was sich in unmittelbarer Nähe des Flusses befand, Menschen, Tiere, Häuser und Äcker. Als die Familie am nächsten Tag wach wurde und sich zu ihrer Viehherde begab, die man in einer Höhle am Flußufer untergebracht hatte, mußte sie zu ihrem Entsetzen feststellen, daß alle Tiere weggespült worden waren. Wie ein Fluch war die Voraussagung des Mannes Wirklichkeit geworden!

Barfuß im Schnee

Einmal ging ich gemeinsam mit einem Onkel und einer Tante zum Markt, der sich damals in Dorphu befand. Wir gingen bereits tagszuvor nach Taljangma, damit wir am nächsten Tag früher in Dorphu ankamen. Die beiden Verwandten liefen aber so langsam, daß wir an einem Tag wohl nie am Markt angekommen wären.

Am Takshindu-Paß war alles mit Reif bedeckt. Zumindest rutschten wir ständig aus. Wir nahmen das aber von der lustigen Seite. In Taljangma übernachteten wir bei einer Schwester der Tante. Als die Frau des Hauses am nächsten Morgen in die Scheune ging, um Brennholz zu holen, schrie sie: "Kha! Kha!" (Schnee). Wir sprangen alle auf und liefen vor die Tür. Alles war weiß, wohin man nur schauen konnte. Auch die Äste und Zweige der Bäume waren dick mit Schnee bedeckt. Damals gab es dort noch sehr viel mehr Bäume als heute. Es war bestimmt fast ein Meter Schnee gefallen. Jedenfalls waren die Zäune, welche die Felder begrenzten, nicht mehr zu sehen. Die Leute aus Taljangma meinten, der Schnee würde bestimmt eine Woche liegen bleiben. Sie sagten, der Weg durch den Wald zwischen Taljangma und Tamsare wäre unmöglich zu begehen.

So gaben wir unseren Plan auf, zum Markt zu gehen, und beschlossen stattdessen, nach Hause zurückzukehren. Die Frau, bei der wir übernachtet hatten, sagte, sie würde mir ja gerne ihre alten katsa (selbstgemachte Sherpaschuhe) geben, da ich damals noch keine Schuhe besaß, aber sie brauche diese selber, um riki (Kartoffeln) zu setzen. So machten wir uns auf den Heimweg. Ein Mann, der mit seinem Sohn vorbeikam, sagte, eine Gruppe von Khumbu-Leuten sei vom Takshindu-Paß heruntergekommen. Daher müsse der Weg frei sein. Sein Sohn hatte Gummistiefel an; es war das erste Mal, daß ich so etwas gesehen habe. Der Junge sprang mehrmals hoch, um den Schnee von den Stiefeln abzuklopfen.

So wickelte ich Jutesäcke um meine Füße. Der Onkel nahm einen Stock mit, mit dem er den Weg abtastete, damit wir nicht über die Zäune fielen. Meine Tante und ich gingen hinter ihm her. Dennoch ging das alles sehr langsam. Als wir den Paß erreichten, konnten wir sehen, daß unten im Tal bereits wieder die Sonne schien und den Schnee etwas weggetaut hatte. Leider mußten wir feststellen, daß die Khumbu-Leute natürlich den Hauptweg von Manidingma heraufgekommen waren. Wir mußten leider in Richtung Chulemo abbiegen, und dort war vor uns noch niemand hergegangen.

Als wir unten am Yawa Khola ankamen, war dort gar kein Schnee mehr. Oben in Yawa und Shiteling aber lag noch etwas Schnee. Als wir in Shiteling ankamen, sah ich an meinen Fußstapfen, daß meine Füße bluteten; Schmerzen spürte ich aber nicht. Als ich dann an unserer Hütte ankam, hatte ich das alles wieder vergessen, tanzte ein paar Schritte und sang ganz laut. Mutter hatte gerade meinen älteren Bruder ausgeschimpft. Wie immer, wenn die Tiere vor Kälte zittern, bekamen sie heißes Wasser mit Salz zu trinken.

Kartoffeln gegen Süßkartoffeln

Einmal bin ich mit meinem Vetter Phuri nach Yapil, einem Rai-Dorf unten im Tal gegegangen. Wir nahmen zwei riesige Körbe mit länglichen weißen Kartoffeln, die von den rundlichen Khumbu-Kartoffeln unterschieden werden, mit, um sie bei den Rai gegen Süßkartoffeln einzutauschen. In Yapil angekommen gingen wir zu einem weißen lehmgetünchten Haus. Im Gegensatz zu den Sherpa-Häusern haben die Rai-Häuser zwei Türen, eine nach Süden und eine nach Osten. Man betritt die Häuser grundsätzlich durch die östliche Tür. Die südliche Tür ist für Fremde nicht zugänglich; sie dient lediglich dazu, die Leichen Verstorbener aus dem Haus zu tragen, jedenfalls wurde mir das früher so von anderen Sherpa erklärt.

Als wir an dem besagten Rai-Haus ankamen, riefen wir: "Ama (Mutter)! Wir möchten Kartoffeln gegen sarkanda (Süßkartoffeln; die Rai sagen suteni) eintauschen. Die Frau kam zu uns heraus. Sie war mit dem Tauschgeschäft einverstanden. Wir konnten unsere Kartoffeln vor dem Haus auskippen. Dann gab die Frau uns Hacken und zeigte zu einem nahegelegenen Feld. Dort könnten wir Süßkartoffeln für uns ernten, erklärte sie in einer Mischung aus Rai-Sprache und Nepali. Wir verstanden zwar nicht alles, aber alles Wichtige. Die Frau machte sich nicht einmal die Mühe, mit uns zu ihrem Feld zu gehen.

Wir rissen das grüne Laub ab und hackten die Süßkartoffeln eifrig aus dem Boden. Die Ernte war ausgesprochen gut. So füllten wir unsere Körbe so voll es nur eben ging. Als wir fertig waren, gingen wir zum Haus der Rai-Frau, erzählten ihr, daß wir jetzt fertig wären und erbettelten auch noch für jeden von uns eine Stange guching (Zuckerrohr, nep. okhu), das in der Höhenlage unserer Dörfer nicht mehr wächst.

Als wir uns endlich auf den Heimweg machten, waren die Schatten schon ganz lang geworden. Der Tag näherte sich seinem Ende und wir hatten noch einen sehr weiten und vor allem steilen Weg vor uns. So ging es rasch über den rauschenden Bach und dann auf kürzestem Weg durch die Felsen hinauf in Richtung zu unserem Dorf. Auf einer Felsplatte an der Sommerweide unserer Kühe machten wir eine kurze Rast. Doch bald ging es in Eile weiter. Dann wurde es dunkel, aber zum Glück kannten wir ja jeden Stein und Baum in der Umgebung. Ich glaube, wir hätten den Weg damals auch mit geschlossenen Augen gehen können. Am Wasserfall flog ein Vogel aufgeschreckt davon. Natürlich hatten wir insgeheim auch etwas Angst vor Leoparden, doch verdrängten wir diese Gefühle. Es ging uns nur noch darum, möglichst rasch nach Hause zu kommen.

Irgendwann trennten wir uns; Phuri hatte es nicht so weit wie ich, da sein Elternhaus etwas weiter unterhalb lag. Als ich dann endlich zu Hause ankam, freute sich Mutter sehr. Sie tat so, als ob ich ihre große Schwester wäre, und erklärte meinen jüngeren Geschwistern, daß ich etwas zu essen mitgebracht hätte. Sicher ist sie auch etwas stolz gewesen. Und natürlich war auch ich stolz über meine Leistung, aber vor allem war ich äußerst müde. Sofort wurden Süßkartoffeln gekocht, über die sich alle mit Begeisterung hermachten. Auch über das Zuckerrohr freute man sich. Alle kauten ein Stückchen davon.

Pockenimpfung

Irgendwann sind einmal zwei Männer in unser Dorf gekommen. Sie haben damals bei allen Kindern des Dorfes Pockenimpfungen durchgeführt. Ich war noch sehr klein und kann mich daher nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Jedenfalls wurden mein Bruder Gyaltsen und ich geimpft. Einer der Männer ritzte mir mit einem Messer einen kleinen Schnitt in den Arm. Die Narbe, die sich später an dieser Stelle bildete, ist noch heute deutlich sichtbar.

Damals haben die beiden Männer den Eltern der Kinder ausdrücklich klargemacht, daß sie in den nächsten Tagen sehr sorgfältig auf ihre Kinder aufpassen sollten. So durften wir weder Milch noch chang trinken. Auch sollten die Speisen nicht gesalzen werden. Man kann sich vorstellen, wie scheußlich das Essen geschmeckt hat. Die Männer warnten, die Kinder könnten sterben, wenn diese Vorschriften nicht eingehalten würden.

Mit derartigen Warnungen stießen sie natürlich bei unserer Mutter auf einen sehr fruchtbaren Boden. Sie war wie ein Luchs hinter uns her und paßte auf, daß wir nur ja nichts Unerlaubtes aßen oder tranken. Diese Gelegenheit konnte ich nicht ganz ungenutzt lassen. Als sie gerade einmal zur Seite schaute, habe ich rasch mit dem Deckel des Milchtopfs geklappert, so als ob ich daraus trinken wollte. Dann lief ich ganz schnell weg und versteckte mich in einem nahen Felsenloch. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Mutter humpelnd und keuchend an mir vorbeihastete, ohne mich jedoch zu sehen. Natürlich hatte sie angenommen, ich hätte von der Milch getrunken. Aber ich wollte ja auch nicht sterben. Selbstverständlich hatte ich nichts getrunken, sondern wollte nur die Mutter etwas ärgern.

Nach einigen Tagen kamen wieder zwei Männer ins Dorf, um die Impfreaktionen zu überprüfen. Auch ich mußte meinen Arm vorzeigen. Der Mann, der mich untersuchte, quetschte meinen Arm ein wenig. Ich schaute ihm dabei ins Gesicht. Meinen Bruder haben die Eltern nicht vorgezeigt. Er mußte sich verstecken, weil er eine besonders starke Impfreaktion hatte. Die Leute hatten nämlich erzählt, in einem solchen Fall würden die Männer die entzündete Stelle ausquetschen, um neuen Impfstoff zu gewinnen. Das wollten meine Eltern nicht.

Man erzählte, in einem anderen Dorf hätten die Bewohner die Mediziner verjagt, weil in diesem Dorf ein paar Kinder gestorben wären, die sich nicht an die Vorschriften gehalten hätten. Ob dies zutreffend war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es war jedenfalls damals das Gesprächsthema im Dorf.

Die Steuereintreiber

Kartoffeln waren offensichtlich in Kathmandu noch unbekannt. So wurden die Steuern, die die Familien alljährlich zu zahlen hatten, lediglich nach der Menge des Getreides berechnet, das man säte. Der Ernteertrag interessierte den Staat nicht. Im Falle von Mißernten war dies natürlich ein großer Nachteil für die Leute. Andererseits konnte aber auch niemand so richtig kontrollieren, wieviel Getreide tatsächlich gesät wurde.

Mit der Steuereintreibung wurde jemand aus dem Dorf beauftragt, der sich damit ein paar Rupien verdienen konnte. Ich erinnere mich, daß dieser Steuereintreiber, es war ein junger Mann aus der Nachbarschaft, im Monat pus (Dezember-Januar) vorbeikam, um die fällige Steuer abzuholen. Damals mußte pro mana (0,568 l) Saatgut eine Rupie gezahlt werden. Eigentlich hätten wir mindestens zehn Rupien zahlen müssen, aber wie alle Familien im Dorf setzten wir die angegebene Saatmenge auf vier mana herab. Es mußten folglich vier Rupien Steuer bezahlt werden, zuzüglich einer Rupie für den Steuereintreiber.

Geld war für uns ein Fremdwort. Wir Kinder besaßen allenfalls Steingeld, mit dem wir spielten, aber das interessierte den Staat ja nicht. So hatten wir die fünf Rupien ganz einfach nicht. Daher vertrösteten wir den jungen Mann immer wieder, wenn er kam, um das Geld abzuholen. Jedesmal wurde er dann aber zum Essen eingeladen. Dies wiederholte sich in den kommenden Monaten mindestens zwanzigmal. Irgendwann kam der Steuereintreiber nicht mehr, und wir selbst vergaßen die Angelegenheit.

Eines Tages, wir waren gerade dabei, das Unkraut in den Feldern zu jäten, d.h. es muß schon im Monat jeth (Mai-Juni) gewesen sein, kamen zwei junge Männer und riefen von weitem, ob Vater da wäre. Als wir dies verneinten, fragten sie nach unserer Mutter. Sie sagten, diese solle wegen unserer Steuern nach Yawa kommen. Mutter band sich also das kleine Baby, das sie gerade wieder hatte, auf den Rücken und machte sich hinkend und keuchend auf den Weg. Als sie gegen Abend zurückkehrte, fragten wir sie, was denn los sei. Da sahen wir auch schon von weitem einen Mann herannahen. Diesmal war es nicht der Steuereintreiber aus dem Dorf, sondern ein richtiger Beamter. Mutter sagte, dieser Beamte habe uns als "kunako mancheharu" (Leute aus dem Loch) bezeichnet. Die beiden jungen Männer, die mit der Steuereintreibung im Dorf beauftragt worden waren, mußten rüde Beschimpfungen über sich ergehen lassen; anscheinend hatten sie bei den anderen Dorfleuten ähnlichen Erfolg gehabt wie bei uns. Offensichtlich wollte der Beamte sich selbst überzeugen, daß es bei uns wirklich nichts zu holen gab. Er kam aber nicht ganz bis zu unserem Haus; er hatte wohl genügend Erkenntnisse gewonnen. Erstaunlicherweise sind wir später nicht mehr wegen Steuerzahlungen belästigt worden. Jedenfalls haben wir Kinder das nicht mehr mitbekommen.

Ein anderes Mal erzählten die Leute, der munmin (Bürgermeister) nehme auch Getreide als Steuerabgabe an. Den Betrag würde er dann an die Steuerbehörde weiterleiten. Die Leute waren jedoch sehr skeptisch und fragten sich, woher er denn das Geld nehme. Es stellte sich heraus, daß er mit seinen drei Söhnen im Spätherbst zum Womi Tso hinaufging und dort aus dem eisigkalten Wasser des Sees das Geld einsammelte, das die zahlreichen Pilger – der See ist im Monsum ein vielbesuchtes Zentrum hinduistischer und buddhistischer Pilger – dort als Opfergabe hineingeworfen hatten. Die Leute betrachteten dieses Verhalten des munmin als Frevel, der auch bestraft werden sollte. Zwei seiner Kinder starben an den Bissen der Blutegel, die sich in ihrer Nase festgesetzt hatten. Später starb auch sein dritter Sohn, der immer von einer alten Witwe aus Taljangma als Begleiter mitgenommen worden war, wenn sie nach Okhaldhunga ging, um die Pension ihres verstorbenen Mannes abzuholen. Auf einer dieser Reisen wurde er so krank, daß er seinen älteren Bruder nicht mehr erkannte, der ihn nach Hause trug. Er starb wenige Tage später. Wegen des pompösen Totenfestes verschuldete sich die Bürgermeisterfamilie so sehr, daß sie völlig verarmte. Sie wanderte später nach Indien aus, da sie die Schulden nicht mehr bezahlen konnte. Die Leute betrachteten dies als Strafe für das frevelhafte Verhalten der Familie.

Spiele

Spezielle Spielzeuge waren bei uns unbekannt. Wir Kinder benutzten ganz einfach das zum Spielen, was greifbar war, und das waren vor allem Steine. Es gab eine ganze Reihe beliebter Steinspiele, die man alleine oder zu mehreren spielen konnte, und deren Regeln von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

Bei dem damang genannten Spiel benötigte man bespielsweise drei kleine Steine. Das Spiel wurde mit nur einer Hand gespielt. Zunächst warf man die Steine wie beim Würfeln auf den Boden. Sie durften anschließend einander nicht berühren. Dann nahm man zwei dieser Steine in die geschlossene Hand. Nun warf man einen dieser beiden Steine in die Luft, tauschte blitzschnell den anderen Stein gegen den dritten, auf der Erde liegenden Stein aus und fing den in die Luft geworfenen Stein wieder auf. Wenn dieser Vorgang mißlang und der Stein nicht mehr aufgefangen werden konnte, war das nächste Kind an der Reihe.

Damang konnte aber auch mit fünf Steinen gespielt werden. Auch diese fünf Steine wurden zunächst ausgewürfelt. Dann wurde einer der Steine in die Hand genommen. Während man ihn hochwarf, ergriff man mit der Hand blitzschnell einen zweiten Stein und fing den ersten wieder auf. Anschließend wurde wieder ein Stein in die Höhe geworfen, ein dritter Stein von der Erde aufgehoben und der erste Stein wieder aufgefangen. So ging das Spiel weiter, bis vier Steine in der Hand waren und nur noch einer auf dem Boden lag. Während nun die vier Steine zu Boden geworfen wurden, ergriff man rasch den letzten Stein. Anschließend wurde dieser Stein wieder in die Luft geworfen, die übrigen vier Steine blitzschnell ergriffen und der in die Luft geworfene Stein wieder aufgefangen. Dieser letzte Vorgang mußte dreimal wiederholt werden. Wer dies alles schaffte, hatte gewonnen; doch das gelang nur sehr selten. konnte aber auch mit fünf Steinen gespielt werden. Auch diese fünf Steine wurden zunächst ausgewürfelt. Dann wurde einer der Steine in die Hand genommen. Während man ihn hochwarf, ergriff man mit der Hand blitzschnell einen zweiten Stein und fing den ersten wieder auf. Anschließend wurde wieder ein Stein in die Höhe geworfen, ein dritter Stein von der Erde aufgehoben und der erste Stein wieder aufgefangen. So ging das Spiel weiter, bis vier Steine in der Hand waren und nur noch einer auf dem Boden lag. Während nun die vier Steine zu Boden geworfen wurden, ergriff man rasch den letzten Stein. Anschließend wurde dieser Stein wieder in die Luft geworfen, die übrigen vier Steine blitzschnell ergriffen und der in die Luft geworfene Stein wieder aufgefangen. Dieser letzte Vorgang mußte dreimal wiederholt werden. Wer dies alles schaffte, hatte gewonnen; doch das gelang nur sehr selten.

Auch das Spiel kopi wurde mit Steinen gespielt. Wir scharrten ein kleines Loch in den Erdboden. Dann suchten sich alle beteiligten Kinder Geldmünzen, die natürlich aus Steinen bestanden, und stellten sich in einiger Entfernung von dem kleinen Loch hinter einer Linie auf. Nacheinander versuchten nun die Kinder, ihre "Steinmünzen" in das Loch zu werfen. Der letzte Stein wurde deka genannt. Er war etwas größer als die anderen Steine. Sieger dieses Spiels war, wer als erster alle Steine in das Loch geworfen hatte. Nachdem alle geworfen hatten, begann das Spiel von neuem.

Ein anderes überall vorhandes Material waren Stöcke. Ein beliebtes Stockspiel der Jungen war tiu dang riu. Zunächst wurde ein kleines rechteckiges Loch von etwa einer Elle Länge und 10 cm Breite ausgehoben. Quer darüber legte man einen kleinen Stock, der tiu genannt wurde. Anschließend setzte man einen etwas längeren Stock, riu genannt, hebelartig unter dem tiu an und schleuderte diesen so weit wie möglich weg. Dann wurde mit dem riu die Entfernung abgemessen, die man den tiu geschleudert hatte. Entscheidend für den Sieg war natürlich die größte Weite.

Beliebt waren auch Spiele mit der Steinschleuder. Wir Kinder konnten mit wenigen Handgriffen aus einer Kordel eine Schleuder schnüren. An einem der beiden Kordelenden machten wir eine kleine Schlaufe, in die wir den Zeigefinger steckten. Dann legten wir einen kleinen Stein in die Schleuder ein, drehten sie dreimal über unserem Kopf und ließen im richtigen Augenblick das mit dem Daumen festgehaltene offene Ende der Kordel los. Meist haben wir auf diese Weise Vögel, manchmal aber auch Affen, gejagt.

Es gab auch Ratespiele. Ein Kind, meist ein Mädchen, hielt mehrere kleine Stöckchen unterschiedlicher Länge zwischen den Handflächen. Alle anderen Kinder mußten eines dieser Stöckchen ziehen. Wer das kürzeste Stöckchen gezogen hatte, mußte sich vor einem Mädchen hinknien, den Kopf auf dessen Oberschenkel legen und die Hände vors Gesicht halten. Das machten die Jungen besonders gerne. Die übrigen Kinder stimmten sich mit Zeichensprache darüber ab, wer als nächster das knieende Kind zupfen oder berühren oder aber auch kräftig in den Rücken boxen durfte. Vor allem die Mädchen pflegten besonders kräftig zuzuschlagen, wenn das knieende Kind ein Junge war. "Su yin" (wer ist da), riefen alle Kinder. Das knieende Kind mußte den Namen des jeweiligen Kindes erraten. Die anderen sagten fast grundsätzlich manda manda (nicht geraten), auch wenn richtig geraten worden war, um den Rater zu verunsichern. Der Rater antwortete dann immer : "da da" (geraten). Eigentlich war dies ein richtiges Betrugsspiel. Die Folge war, daß es häufig zum Streit kam, wenn der Rater zu viele Schläge abbekam.

Beim Wildgänsespiel (chelung) spielten ein käftiger Junge und ein Mädchen Wildgänse. Der Junge war die Wildgansmutter, das Mädchen ihr Junges. Die beiden stellten sich Rücken an Rücken und hakten die Arme ineinander ein. Dann nahm der Junge das Mädchen auf den Rücken, indem er sich nach vorne beugte, und tanzte so ein wenig durch die Gegend. Dabei sang das Mädchen: "Nga tang ama cho la do" (Ich gehe mit meiner Mutter ins Kloster). Ein anderer kräftiger Junge spielte den Habicht. Während die beiden tanzten, versuchte er, von der Seite schnell zuzustoßen und das Mädchen seiner Mutter zu rauben. Der Habicht ahmte dabei die Laute der Wildgänse nach. Das Mädchen fragte immer: "Ama toktok srubti kang yin" (Mutter, was ist das für ein Geräusch)? Die Mutter wurde wütend und schimpfte: "Das ist dein Kopf!" Nach einiger Zeit fragte das Mädchen wieder, und diesmal antwortete die Mutter: "Das ist deine Leiche!" Irgendwann wurden die beiden dann müde, und der Habicht konnte seine Beute holen.

Ein anderes Spiel nannten wir setkyi goljag (das goldene Schloß). Hierbei setzte sich eine Reihe von Jungen und Mädchen an einem etwas steileren Hang hintereinander, wobei die größten und kräftigsten Kinder vorne saßen und die schwächeren hinten. Dabei hielt man jeweils den Vordermann fest umklammert. Normalerweise saßen Mädchen und Jungen abwechselnd. Ganz vorne saß immer ein Mädchen. Der dahinter sitzende Junge war der "Vater". Dann kamen zwei andere Kinder und hielten um die Hand der "Tochter" an, die der "Vater" fest umklammerte. Der "Vater" sagte: "Nur über meine Leiche! Ihr bekommt meine Tochter nur, wenn ihr das goldene Schloß aufbekommt." Dann versuchten die beiden "Brautwerber" mit aller Gewalt, das Mädchen wegzuzerren oder die umklammernden Hände des "Vaters" zu öffnen. Dabei rutschte die Kinderschlange allmählich den Hang hinab. Irgendwann aber gab der "Vater" dann doch nach und rief seiner "Tochter" zu: "Geh' hin und brate Popcorn im Lendenschurz deines Mannes." Darüber kicherten alle Kinder.

Manchmal des Nachts, meist bei irgendwelchen Festangelegenheiten, spielten wir auch Schäfer. Ein Junge spielte dabei den Schafhirten, ein anderer den Schäferhund und ein dritter den Bergleoparden. Alle anderen Kinder waren die Schafe. Während alle "Schafe" aus vollem Halse blökten, pfiff der Hirte und schrie: "Der Bergleopard ist gekommen! Wo sind meine Schafe hin?" Gleichzeitig bellte der Hund, und der Bergleopard kreischte und fauchte. Alle waren in Bewegung. Der Bergleopard riß dann ein Lämmchen, dargestellt von einem Mädchen, und schleppte es davon. Der Hund versuchte währenddessen, den Leoparden daran zu hindern. Richtige Leoparden trauten sich an solchen Abenden bestimmt nicht in die Nähe des Dorfes.

Beliebt waren auch Spiele, die eigentlich eine Nachahmung lebensnotwendiger Fertigkeiten waren. Auf diese Weise lernten wir Kinder gleichsam spielerisch Dinge, die wir später beherrschen mußten. Solche Spiele waren beispielsweise der Bau von Hütten, das Errichten von Feuerstellen, das Kochen, der Kauf von Tieren, das Handeln und Feilschen, oder das Spielen der Vater- oder Mutterrolle. Seltsamerweise wollten die Jungen lieber die Mutter spielen. Die Begründung war, daß sie dann immer das Beste zu essen bekämen. Ich selbst mußte meist Männerrollen spielen und viele Schimpfe einstecken.

1 Ein Sherpa-Sprichwort, das besagt, daß Menschen, die in die Fremde gegangen sind, sich an die Zurückgebliebenen erinnern.
2 Ich erlebte dies erneut vor wenigen Jahren. Damals war ich in Deutschland und wachte nachts gegen vier Uhr auf, weil ich das Gefühl hatte, Mutter stände draußen vor dem Haus – sie hatte uns nur ein Jahr zuvor in Deutschland besucht – und rufe meinen Namen. Völlig verstört bin ich aus dem Haus gegangen und im Dunkeln durch den Garten geirrt. Einige Tage später erfuhr ich, daß meine Mutter in jener Nacht genau zu dieser Uhrzeit (Mitternacht nepalischer Zeit) gestorben war.
3 Diese Tätigkeiten werden mormalerweise von Männern ausgeführt. Ich kann mich erinnern, daß sie dabei trotz allem oft noch lachen.

Copyright © 1994, Lhakpa Doma Salaka-Binasa Sherpa