Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Auf den Hochweiden

Womi Tso

An einem bestimmten Tag mußten sich alle Hirten der Salaka (ein Sherpaklan) -Siedlungen Yawa, Deku, Chulemo und Ringmo mit ihren Tieren auf den Weg nach Tangbuk machen. Es machte nichts, wenn eine Familie es an diesem Tag nicht schaffte. Vorher aber durfte niemand auf die Hochweiden gehen. Ich möchte hier darstellen, wie ich in meiner Jugend einen solchen Sommer auf der Alm erlebt habe.

Wir hatten uns bereits einen Tag zuvor mit unseren etwa 15 weiblichen Tieren zum kalmin (eine den Rhododendron ähnliche Strauchmart) -Wald begeben, wo wir übernachteten, damit wir am nächsten Tag nicht als letzte auf der Hochweide ankamen. Unsere Tiere waren schon relativ alt und liefen nicht mehr so gut. Die Milch vom Abend kochten unsere Eltern die ganze Nacht über, bis sie butterartig verklumpt und die ganze Flüssigkeit verdampft war. Dieses Produkt diente dann anschließend als Proviant für den Aufstieg. Vater erklärte uns, daß dies so Tradition sei.

Diejenigen, die zum ersten Mal dabei waren, hatten mit Kopfschmerzen und Erbrechen zu kämpfen. Diese Krankheit wird von den Sherpa als lathuk, Berggift, bezeichnet; im Deutschen spricht man von Höhenkrankheit. Immerhin lag unser Heimatdorf auf etwa 2500m Höhe, die Hochweiden aber in 4500m. Wir keuchten, als hätten wir einen Dauerlauf hinter uns. Schließlich hatten wir alle eine ganze Menge zu tragen. Der gesamte Hausrat für die Sommermonate mußte mitgenommen werden: Töpfe und Pfannen, Geschirr, Balken und Matten für die Hütte, Brennholz, Gefäße zum Melken und für die Herstellung von Butter und die überflüssigen kleinen Geschwister, die immer von der Mutter verwöhnt und verhätschelt wurden und dennoch später irgendwann gestorben sind.

Endlich kamen wir doch oben auf der Höhe an. Von dort hatte man einen herrlichen Ausblick über Berge und Täler. Man konnte einen Teil des Womi Tsangbu-Tales, das Tangbo Tsangbu-Tal und den Pike erblicken. Tief unten lagen die Dörfer an den Berghängen. Von jetzt an ging es immer geradeaus ohne Steigungen. Irgendwann mündete von links der Weg von Ringmo ein, etwas später von rechts der Fußweg aus der Pharak-Schlucht. Gegen Abend sind wir dann schließlich an der kleinen Brücke über den Tsangbu, den Abfluß des Womi Tso, angekommen. Auf der anderen Seite lag unsere Steinhütte. Hütte ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Das Gebäude bestand nämlich nur aus den Mauern. Dachbalken und Bambusmatten – Mutter konnte wunderbar flechten – wurden jedes Jahr neu aus dem Dorf mitgebracht. Eine Tür gab es hier oben nicht. Alle Familien hatten auf der Hochweide eine derartige fest gemauerte Hütte. Zunächst wurden die Überreste vom Vorjahr beseitigt, dann machten wir es uns gemütlich. Eigentlich hätte das Gebäude etwas größer sein dürfen. Es kamen nämlich dauernd Leute aus Khumbu auf der Durchreise oder Pilger aus der Gegend von Okhaldhunga, meist Hindus, vorbei, die fragten, ob sie bei uns übernachten könnten. Natürlich konnten sie das, und so war unsere kleine Hütte ständig überfüllt, so daß man oft nachts nicht einmal richtig liegen konnte.

Vater machte das Dach mit Hilfe meines älteren Bruders. Jeder hatte seine Aufgabe. Mutter konnte sehr gut befehlen. Der Hund bellte und die kleinen Geschwister schrien. Ich mußte ein paar Thuja holen. Damals wuchsen dort oben noch viele Thuja, lha shugpa, flach auf dem Boden. Ich ging durch ein Meer von gelben Blumen, das vereinzelt von den Häuschen unterbrochen wurde. Wir benutzten die Thuja als Teppichboden im Haus. Das einzige Geräusch, das ständig in der Luft schwebte, war das angenehme Rauschen des Tsangbu. Ich ging zum Fluß, um Wasser zu holen. Weißer Schaum schwamm auf dem tiefschwarzen Wasser. Am Ufer hatten sich viele Felsbrocken und Sand abgelagert. Alles war von Feuchtigkeit überzogen und daher sehr glitschig. Ich steckte meine Hand ins Wasser und zog sie sogleich erschrocken wieder zurück, hatte ich doch nicht damit gerechnet, daß das Wasser so kalt sein würde.

Es duftete überall nach Butterblumen und dem süßen Rauch von Azaleen, masud, die die Leute ins Feuer geworfen hatten. Letztere gelten als heilige Pflanzen. Durch ihre Verbrennung entsteht Weihrauch, mit dem die Götter günstig gestimmt werden sollen. Die masud kamen dort oben in den Blütenfarben Weiß, Rot und Rosa vor. Das Gras der Hochweiden war relativ kurzwüchsig, es wurde nur etwa 20 cm hoch, aber es war sehr nahrhaft; die Tiere wurden stets satt. Besonders auffällig unter den Wiesenblumen war der blaue Mohn, eine distelartige Pflanze ohne Stacheln, die etwa einen halben Meter hoch wuchs und sehr große blaue Blüten hatte. Die Stengel dieser Pflanze haben wir Kinder mit Vorliebe gegessen. Die Frauen und Mädchen suchten auch nach Medizinpflanzen, die als men bezeichnet wurden, winzige Knollenfrüchte, die weiter unterhalb etwa in Höhe der Waldgrenze zwischen Dornengestrüpp wuchsen. Sie mußten bei dieser Suche sehr vorsichtig sein, da es auch eine Giftpflanze gab, die den men sehr ähnlich sah. Man konnte sie nur aufgrund der Blüten unterscheiden. Die Jungen beteiligten sich nicht an der Suche nach irgendwelchen Pflanzen.

Wir Kinder haben tagsüber auf die Tiere aufgepaßt, die am Womi Tso weideten. Diese Zeit nutzten wir ausgiebig, die Natur um uns herum zu beobachten. Ich erinnere mich, daß wir am Hang auf ein Vogelnest stießen. Die beiden Vögel flogen weg, als wir uns näherten. Als wir in das Nest schauten, erblickten wir drei Eier. Als wir weitergingen, kehrten die Vögel zurück. Wir sangen den ganzen Tag und sammelten Pilze und was wir sonst noch an Eßbarem finden konnten. Die Tiere waren unterdessen weitergezogen. Es war aber so neblig geworden, daß man sie nicht mehr suchen konnte. Daher gingen wir zu den Eltern zurück. Unterwegs trafen wir ein Tier, doch wußte ich nicht ob es eines von den unsrigen oder vom Nachbarn war.

Als wir wieder zu Hause ankamen, fanden wir die Erwachsenen in ziemlich ausgelassener Stimmung vor. Es wurde nämlich das yajin (Hirtenfest) gefeiert. Jede Familie mußte ein dharni (nep., ca. 2,4 kg) Butter und ein pathi (nep., ca. 4,4 l) Mehl stiften. Die Männer hatten den ganzen Tag über aus der Butter, dem Mehl und etwas Wasser zwei Figuren hergestellt. Die Frauen kamen erst hinzu, als die Männer mit ihrer anstrengenden Knetarbeit fertig waren. Bereits im Vorjahr hatte sich eine Familie bereit erklärt, in diesem Jahr das Abendessen vorzubereiten. Das Fest fand in einem etwas größeren Steinhaus statt, das nur zu diesem Zweck von allen Familien gemeinsam genutzt wurde. Platzmangel gab es in diesem Haus jedenfalls nicht. Es gab zum Essen auch viel Yoghurt und andere Milchprodukte sowie Breiklumpen (sen). Und für die Erwachsenen gab es natürlich auch reichlich arak. Es wurde viel getanzt in jener Nacht. Wir Kinder konnten irgendwann die Augen nicht mehr aufhalten und liefen zum Schlafen zu unserer eigenen Hütte. Die Erwachsenen aber fanden kein Ende. Die Reste der Figuren wurden gewogen und gleichmäßig auf die teilnehmenden Familien verteilt. Nun konnten alle sicher sein, bis zum nächsten Jahr von keinem Unglück befallen zu werden. Aber die Familie, die das Abendessen gespendet hatte, hatte offensichtlich nicht gut gebetet. Eines ihrer Tiere ertrank noch in dieser Nacht im Tsangbu. Man sah seinen Kadaver unter der Brücke liegen. Aber die Leute holten das tote Tier nicht heraus, da sie alle nicht schwimmen konnten und das reißende Wasser eisig kalt war.

Unsere Hütte war immer brechend voll. Schließlich schliefen nicht nur wir darin, sondern auch die jungen Tiere, die zwischenzeitlich auf den Almen zur Welt gekommen waren. Außerdem fragten immer wieder Reisende aus Khumbu, die nach Kathmandu liefen, ob sie bei uns übernachten könnten. Natürlich gebot die Gastfreundschaft, daß man diese Menschen dann bei uns schlafen ließ. Oft konnten die Erwachsenen nur im Sitzen schlafen, so überfüllt war unsere Hütte. Es kamen aber auch sehr viele Pilger von überall her. Ständig hörten wir Trommeln und Gesang und die Rufe der damin (Schamanen) : "Say, Say, Say" oder "Ram, Ram, Ram". Die Schamanen trugen enge lange Hosen und darüber weite Röcke. Sie trugen mit Glöckchen besetzte Gürtel. Immer wenn sie sprangen und sich drehten, klingelten die Glöckchen und wirbelten die Röcke hoch. Auf dem Kopf hatten sie einen wunderschönen Kopfputz aus Pfauenfedern. Über der Schulter trugen sie mehrere Kernschnüre, und mit den Händen schlugen sie mit einer kleinen Trommel den rythmischen Takt ihrer Gesänge. Wir Kinder waren unwahrscheinlich fasziniert von diesen Leuten, aber selbst die Erwachsenen ließen ihre Arbeit liegen und schauten den tanzenden damin zu.

Einmal trafen wir eine Gruppe von fünf oder sechs Schamanen aus der Hindukaste der Kami (Schmiede). Vater gab ihnen etwas Buttermilch und Quark. Er kannte einen von den Männern, der ihn mit dajyu (nep. älterer Bruder) anredete. Jener Mann hat sich sehr geniert, die anderen aber fragten immer nach mehr, bis daß Vater den ganzen Quark weggegeben hatte. Wir haben uns auch darüber gefreut, weil wir nun nichts mehr tragen und auch kein Holz sammeln mußten, um den Quark über dem Ofen zu räuchern.

Ich bin einmal mit einer Gruppe von Mädchen zum Womi Tso gegangen. Wir haben gesungen und getanzt und waren alle völlig außer Rand und Band. "E hok, e hok, e hok!" So riefen wir immer, wie es üblich ist bei Hochzeiten oder wenn man sehr glücklich ist. Jemand, der "e hok" schreit, kann nicht traurig sein. Sogar der Nebel verzog sich ein wenig und die Sonnenstrahlen schimmerten für kurze Zeit durch das eintönige Grau. Wir umkreisten den See im Uhrzeigersinn. Oberhalb des Sees war am Wegesrand ein trisul (Dreizack, ein Symbol der Hindu-Gottheit Shiva) in der Erde befestigt. Dann ging der Weg steil nach unten zum Seeufer. Dort saß eine dicke braune Maus, die gar nicht scheu war. Sie fraß von den Opfergaben, die die Gläubigen zurückgelassen hatten. Dann kamen wir zu der Steinplatte, die von Frauen aufgesucht wird, die keine Kinder bekommen. In dieser Steinplatte war eine Vertiefung, die mit Wasser gefüllt war. Eine Frau hatte gerade hineingegriffen und einen Stein herausgeholt und ohne hinzusehen in ihre Tasche gesteckt. Sie sollte aber keinen Erfolg haben; sie blieb nämlich kinderlos und wurde später von ihrem Mann geschieden.

Nun kamen wir zu einer sandigen Uferstelle. Hier nahmen viele Frauen rituelle Bäder. Sie standen mit ihren Kleidern bis zum Bauch im kalten Wasser und wuschen sich den ganzen Körper. Immer wieder hörten wir die Ausrufe "Ram, Ram, Ram!" Vereinzelt sah man auch Männer beim rituellen Bad. Sie hatten ihre topi (nepalische Männerkopfbedeckung) abgenommen. Ihr heiliges Scheitelhaar hing lang herunter. Als nächstes trafen wir eine Gruppe tanzender Damai (hinduistische Schneiderkaste). Es kamen um diese Zeit täglich wohl um die hundert Personen zum See. Auf dem Wasser schwammen Bananen, Maiskolben, Gurken oder anderes Obst, das die Gläubigen als Opfergaben in den Womi Tso geworfen hatten. Eine beliebte Opfergabe waren auch Geldmünzen.

Ein paar Meter neben der Badestelle der Gläubigen schöpfte eine Sherpa-Frau Wasser aus dem See, um für die Pilger für ein paar ana (4 paisa; 1 Rupie = 100 paisa) oder suka (25 paisa) Tee zu kochen. Zu diesem Zweck befanden sich am Ufer des Sees ein paar Teestuben. Ein Sherpa-Junge versuchte krampfhaft an die auf dem See schwimmenden Opfergaben zu gelangen. Er warf Steine ins Wasser, um einen Maiskolben ans Ufer zu treiben, was sich jedoch als sehr schwierig erwies. Ich weiß nicht, ob es ihm gelungen ist, wir sind jedenfalls weitergegangen. Eigentlich soll man solche Opfergaben auch nicht essen.

Ein krankes schwaches Rai-Mädchen war von seinen Eltern zum See gebracht worden in der Hoffnung, das Kind könne dort am heiligen See wieder genesen. Daher hatten sie sie in dem eisigkalten Wasser gebadet und anschließend in der Hütte meiner Cousine liegen lassen. Das Mädchen verweigerte jedoch jegliche Nahrung, spuckte bald darauf eine gelbe Flüssigkeit aus und verstarb. Drei Männer schleppten ihre Leiche mit viel Geschrei aus der Hütte heraus, verbrannten sie so gut es mit dem wenigen Holz ging und vergruben die Überreste. Ein Leben war zu Ende gegangen.

Als wir dort oben am See übernachteten, kam es zwischen zwei Sherpa-Jungen zum Streit. Andere packten einen der beiden, der nicht mehr ganz nüchtern war, und brachten ihn zum Seeufer. Unterdessen hatte die Wirtin den anderen Jungen mit einer Mütze verkleidet und zum Schlafen unter eine Decke gelegt. Nach einiger Zeit kam der andere auf allen Vieren wieder zur Türe hereingekrabbelt. Durch die Kühle der Nacht war er wieder etwas nüchterner geworden. Nun suchte er nach dem anderen Jungen und heulte, weil er ihn nirgends sehen konnte. Diese Maßnahme der Verkleidung ist ein Trick, der von der Sherpa bei derartigen Gelegenheiten häufig angewandt wird.

Der neue Holzlöffel

Ein Mann ging einst auf die Almen, um seine zom-Herde zu hüten. Er hatte zwölf Tiere zu beaufsichtigen. Aus einem Stück Holz, das er sich von zu Hause mitgenommen hatte, machte er sich daran, einen Holzlöffel zu schnitzen, um sich die Zeit etwas zu vertreiben. Dabei konzentrierte er sich jedoch so sehr auf seine Schnitzarbeit, daß er seine Viehherde völlig vergaß.

Als er sich endlich wieder an seine Tiere erinnerte, konnte er sie nirgends mehr erblicken. Also machte er sich sofort auf die Suche nach ihnen. Als er sie dann endlich fand, rührte ihn der Schlag. Von seinen zwölf Tieren lebten nur noch drei, die übrigen lagen tot am Boden. Sie waren von einem Wolfsrudel angegriffen und gerissen worden. Es muß sich schon um ein sehr großes Rudel gehandelt haben. Die Taktik der Wölfe ist meist, daß sie von oben den Hang herunterkommen und die Tiere bergab treiben. Ihre Flucht ist dabei meist sehr unsystematisch. Die Wölfe versuchen im Gegensatz zu Bergleoparden, den Tieren in den Leib zu beißen und die Gedärme herauszureißen. Entsprechend schauerlich war der Anblick, der sich dem Mann nun bot.

Daher war es nicht verwunderlich, daß er unter Schockeinwirkung stand. Anstatt nun wenigstens die drei lebenden Tiere zur Almhütte zurückzutreiben, ging er alleine dorthin zurück. Seine Frau und die Kinder, die tagsüber unten auf den Feldern gearbeitet hatten, erwarteten ihn bereits. Zu allem Überfluß wurde es bereits dunkel, so daß es nicht mehr möglich war, zurückzugehen und die drei Tiere zu holen. Als sich die Familie dann am nächsten Tag auf die Suche machte, fanden sie auch die verbliebenen Tiere nur noch tot vor.

Der Mann hatte also zwölf kräftige Tiere gegen einen neuen Holzlöffel eingetauscht. Diese wahre Begebenheit wurde uns Kindern immer als ein Lehrbeispiel erzählt, wenn man uns dazu anhielt, gut auf die Tiere aufzupassen. Auch wenn das Tierhüten eine recht langweilige Angelegenheit sein mochte, so sollten wir uns nicht die Zeit mit Handarbeiten oder Spielen vertreiben, sondern unseren Blick stets auf das weidende Vieh richten. Mehrmals am Tag mußten wir darüber hinaus die Tiere zählen, um uns zu vergewissern, daß nicht doch eines abhanden gekommen war.

Untere Sommerweide

Auf den hohen Sommerweiden am Womi Tso bleiben die Leute meist nur für etwa einen Monat. Es ist dort oben immer sehr neblig und ungemütlich. Auch ist das Gras schnell abgeweidet. Es ist aber auch sehr lästig, daß alle Essens- und Brennmaterialvorräte dort hinaufgeschleppt werden müssen. Dann begeben sich die Menschen mit ihren Tieren in etwas tiefere Lagen.

Wir ließen uns am Beginn des Tannenwaldes nieder. Die Gegend heißt chu serwu (gelber Fluß), weil dort ein kleiner Bach durchfließt, der etwas gelbliches Wasser führt. Vermutlich liegt es daran, daß der Boden sehr lehmig ist. Dort war es sehr dunkel. Im Unterholz wuchs eine Pflanze, die war so groß wie Rhabarber, hatte aber tiefgrüne Blätter. Diese Pflanze wurde gerne von den Tieren gefressen. Es wuchsen da oben auch wilder Spargel, Knollenfrüchte, Hagebutten, Steinpilze, Ohrenpilze, Pfifferlinge und Schnittlauch. Etwas abseits war ein Bambuswald. Dort wuchs tsogting, die einzige Bambussorte, die noch in derartigen Höhenlagen vorkommt. Sämtliche kleinen Haushaltsgeräte werden aus diesem Material hergestellt, weil es sehr stabil ist.

Wir Kinder sind dort oben gemeinsam mit Nachbarskindern durch die Wälder gestreift. Auf einem dieser Streifzüge stießen wir auf eine kleine Höhle. Dort griff mich Sangbu plötzlich von hinten an, wie es bei Kindern häufig vorkommt, wenn sie gerne ein Kämpfchen machen wollen. Er schmiß mich blitzschnell mit einem Judogriff nach vorne. Das ließ ich mir aber nicht lange bieten, stand ebenso schnell auf und schmiß auch ihn zu Boden. Ich war so wütend über diesen hinterhältigen Angriff, daß ich ihn bis heute nicht vergessen habe. Ich muß so böse reagiert haben, daß mich Sangbu später nie wieder angegriffen hat.

Die Menschen sind hier oben auf der Sommerweide meist sehr ausgeglichen und finden immer wieder Zeit für Späße und Spiele. So erinnere ich mich, daß zwei Frauen, die eine war die Stiefmutter der anderen, doch waren beide altersmäßig nicht sehr weit auseinander, einen Wettlauf veranstalteten, obwohl sie beide schwere Lasten trugen. Erst machten sie eine Pause, und dann rannten sie einen kleinen Hügel hinauf, um zu testen, wer von ihnen stärker war. Der Wettlauf endete unentschieden.

Einer aus der Familie mußte immer in der kleinen Hütte bleiben, die wir zum Essen und Schlafen benutzten. So blieb auch ich einmal mit meiner kleinen Schwester in der Hütte. Irgendwann stellte ich fest, daß kein Wasser mehr da war. Daher machte ich mich auf den recht weiten Weg, um Wasser zu holen. Meine kleine Schwester erklärte sich einverstanden, alleine in der Hütte zurückzubleiben. Als ich nach langer Zeit wieder zurückkam, war die Hütte jedoch leer; meine Schwester war verschwunden. Ich machte mich sofort auf die Suche nach ihr, konnte sie aber nirgends finden. Als Mutter abends mit den Tieren zurückkam, sagte ich ihr, daß die kleine Schwester verschwunden sei. Ein Nachbar teilte Mutter mit, er habe weiter unten zwischen den Felsen einen Ochsen schreien gehört. Mutter meinte, daß könnte auch ihre Tochter sein, die schrie immer wie ein Ochse. Mutter ging dann in der angegebenen Richtung suchen und fand meine Schwester auch tatsächlich in einer Felsspalte. Sie konnte nicht mehr herausklettern, hatte aber auch zu viel Angst, weiter nach unter zu klettern. Sie war vom lauten Schreien völlig heiser und wegen des ständigen Regens unterkühlt und zitterte am ganzen Körper.

Ein anderes Mal mußte mein jüngerer Bruder Dawa in der Hütte zurückbleiben. Vater war nach Khumbu gegangen, um dort Butter zu verkaufen oder gegen Salz einzutauschen. Unterwegs traf er in Tanggaphuk eine Gruppe Europäer, die mit einigen Leuten aus Khumbu unterwegs waren. Die Leute waren am Kauf von Dickmilch interessiert. Vater wäre ganz gerne mit ihnen zusammen zur Hütte zurückgelaufen, um ein kleines Geschäft zu machen, entschloß sich dann aber doch, weiter nach Khumbu zu gehen. Als wir gegen Abend mit den Tieren zurückkamen, erfuhren wir, daß der Nachbar ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er hatte den Leuten Dickmilch für zwanzig Rupien verkauft, was für uns damals eine ungeheure Geldsumme war. Die Fremden waren auch zu unserer Hütte gekommen und hatten nach Dickmilch gefragt. Aber Dawa dachte, die Leute wollten ihn übers Ohr hauen und hatte daher strikt abgelehnt, Dickmilch zu verkaufen. Abends war er sehr stolz auf diese Tat. Mutter bedauerte , daß ich nicht zu Hause geblieben war. Sie wußte, daß ich mir das Geschäft nicht hätte entgehen lassen.

Unsere Hütte lag direkt am Wegesrand. Daher kamen häufig Leute vorbei, die fragten, ob sie etwas Tee kochen könnten. So geschah es auch an einem sehr heißen Tag. Wir hatten nur drei Töpfe: eine Pfanne zum Braten, einen großen Milchtopf und einen Kessel zum Kochen der Suppe. Letzterer war stark angebrannt. Er war aber das einzige Gefäß, in dem man Tee kochen konnte. Als nun wieder jemand fragte, ob er Tee kochen könne, bot ich ihm diesen angebrannten Kessel an. Der junge Mann, den wir achu (älterer Brüder) nannten, nahm den Kessel und fing an, ihn zu säubern. Er brauchte bestimmt eine ganze Stunde dazu, aber er machte es mit einer Seelenruhe.

Wir hätten natürlich unsere Hütte auch etwas weiter abseits des Weges aufstellen können, aber dort war es äußerst einsam und sehr still. Man hörte nur die Vögel zwitschern. Da war es uns lieber, wenn ab und zu jemand vorbeikam. Angst brauchte man damals ohnehin nicht zu haben. Dennoch war es für diejenigen, die in der Hütte zurückbleiben mußten, immer sehr einsam. Die Zeit wurde dann sehr, sehr lang. Man freute sich immer, wenn die anderen abends mit den Tieren zurückkehrten.

Wir liebten unsere Tiere sehr, wie das bei Hirten üblich ist. Die Frauen und Mädchen hingen geradezu an den Tieren und sprachen mit ihnen. Alle Tiere hatten einen Namen, mit dem sie angesprochen wurden. Wenn ein Tier starb, waren alle sehr traurig und weinten, fast als sei ein Mensch gestorben. Das Melken war überwiegend Aufgabe von Frauen und Mädchen. Sobald eine Kuh ein Kalb bekommen hatte, erhielt diese Kuh eine feste Bezugsperson, die auch für das Melken zuständig war. Diese feste Beziehung bestand für ein halbes Jahr. Wenn die Bezugsperson starb oder verhindert war, mußte die Ersatzperson, die die Aufgabe des Melkens übernahm, immer ein Kleidungsstück der eigentlichen Bezugsperson tragen. Die Kälber waren durch die zahlreichen Kreuzungen nicht mehr richtig lebensfähig. Man ließ sie daher meist verhungern. Nach etwa einer Woche waren sie tot. Um den Tod zu beschleunigen gab man ihnen Buttermilch zu trinken. Das Fleisch wurde meist den Tieren, insbesondere den Hunden, zum Fressen gegeben. Die Leute sagten immer, Kalbfleisch schmecke nicht.

Die Männer waren nur zum Transportieren der Vorräte und der Milchprodukte zu gebrauchen. Es kam manchmal vor, daß ein Mann drei Tage oder länger vergaß, seiner Familie Getreidevorräte oder ähnliches zur Alm hochzubringen, weil er unten im Dorf an irgendeinem Fest teilnehmen mußte. Dann mußte sich die Familie oben auf der Sommerweide einige Tage lang nur von Milchprodukten und Waldfrüchten ernähren.

Einmal hatte mich der Nachbarsjunge, Kaji, zum Essen eingeladen, damit uns die Zeit nicht so lang wurde. Meine Eltern und seine Eltern führten damals wegen einer Erntesache gegeneinander einen Prozeß. Aber damit hatten wir Kinder ja nichts zu tun. Die Nachbarn hatten einen riesigen Hund, fast so groß wie ein Bär. Wir Kinder hatten immer Angst vor diesem Hund. Kaji setzte sich daher dem Hund auf den Kopf, damit er mich nicht sehen und riechen konnte. Es gab heißen Quark zu essen. Kaji war etwas jünger als ich. Er hatte zwei ältere Schwestern und mußte daher nicht so hart arbeiten wie ich. Ich kann mich erinnern, daß er einmal bei einem Ringkampf gegen mich verloren hat. Deswegen wurde er von den anderen Kindern immer ausgelacht: Er könne ja nicht einmal gegen Mädchen siegen.

Im Gegensatz zu mir bekam Kaji während der Wintermonate Unterricht von einem Privatlehrer, den sein Vater engagiert hatte. Ich schämte mich damals, mit dem Lehrer, einem Chetri, zu sprechen, weil ich selbst nicht lesen und schreiben konnte. Kaji wurde später sehr jung mit Ang Pe aus Tamsare verheiratet und später wieder gewaltsam geschieden. Aus der Ehe gingen ein Junge und ein Mädchen hervor. Das Mädchen starb später. Dann heiratete Kaji ein Mädchen aus Khumbu, das jedoch früh starb. Für zwei Jahre ging Kaji nach Amerika. Nach seiner Rückkehr bekannte er sich zur Familienplanung und ließ sich sterilisieren. Er holte sich seine erste Frau wieder zurück und lebte glücklich mit ihr. Er verunglückte später tödlich. Ang Pes Bruder Gyelbu holte sich Kajis Sohn, Rinzi, zurück, obgleich dieser nach Sherpa-Sitte in der Familie des Vaters hätte bleiben müssen. Rinzi half uns später bei einem Familienplanungsvorhaben.

Einmal kam eine große Gruppe damin (Schamanen). Sie machten bei unserer Hütte Rast. Einer von ihnen, ein noch sehr junger Mann, tanzte und verneigte sich anschließend in Richtung zum Numbur, dem nahegelegenen Schneegipfel, und bedankte sich bei dem höheren Wesen. Die tanzende Gruppe war ein wunderbarer Anblick für uns. Sie sagten, wir sollten für den jungen damin Milch stiften. Mutter sagte aber nein; die Leute sollten die Milch kaufen, wenn sie welche haben wollten. Als die Gruppe wieder weg war, war uns doch nicht so recht wohl. Wir befürchteten, die damin könnten einen faulen Zauber machen, weil wir ihnen keine Milch gegeben hatten. Aber es ging alles gut.


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