Nepali Bishlesak (pseud.)

Verschärfte Krise: Die politische Lage nach dem Massaker

In: Südasien, 21,4:29-32 (2001).

Seit Jahren sind politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instabilität kennzeichnend für Nepal. Nahezu unlösbare wirtschaftliche Probleme, Korruption und Machtmißbrauch, mangelnde Verantwortung der gewählten politischen Führer, der maoistische „Volkskrieg“, das bhutanische Flüchtlingsproblem, die sich intensivierenden ethnischen, sprachlichen und kulturellen Spannungen, die Unterdrückung und Benachteiligung der Frauen und der sogenannten niederen Hindukasten, die zahlreichen Verletzungen und Mißstände im Bereich grundlegender Menschenrechte, all das sind nur einige der gravierendsten Probleme, mit denen das Land in der ersten Dekade seines „demokratischen“ Systems konfrontiert wurde. Immer, wenn man glaubt, die Lage sei an einem absoluten Tiefpunkt angelangt, gibt es einen erneuten Rückschlag. Die Ereignisse vom 1. Juni 2001 im Königspalast sind jedoch von derartiger Tragweite, daß selbst gut einen Monat später eine Abschätzung der möglichen Auswirkungen nur bedingt möglich ist.

Die Monarchie

Die Monarchie ist im Laufe des jahrelangen politischen Chaos in der Tat mehr und mehr als der integrierende Faktor in den Vordergrund gerückt, eine Rolle, welche die Verfassung ihr ohnehin zugedacht hat. Dies hängt nicht nur damit zusammen, daß die übrigen Staatsorgane mehr oder weniger stark versagt haben, sondern es ist auch ein Verdienst des ermordeten Königs Birendra, der seine konstitutionelle Aufgabe wirklich vorbildlich erfüllt hat.

Doch auch Birendra stand zuletzt vor äußerst schwierigen Aufgaben im Zusammenhang mit einer Lösung des maoistischen Konflikts. Über Jahre hatte er sich wiederholten Versuchen der Politiker, allen voran Premierminister Koiralas, das Militär zur Niederschlagung des maoistischen Aufstandes heranzuziehen, erfolgreich widersetzt.

Dieser Widerstand des Königs war möglich, weil die Verwendung der Armee in der Verfassung nicht so ganz klar geregelt ist. Auch die heutige Verfassung hat dem Monarchen das Oberkommando über das Militär belassen. Gleichzeit aber wurde ein Verteidigungsrat geschaffen, der letztlich über den Einsatz des Militärs entscheiden soll. Dieser besteht aus lediglich drei Personen: Premierminister, Verteidigungsminister und oberster General.

Während Premierminister Koirala und der ihm äußerst loyale und auch verwandtschaftlich verbundene Verteidigungsminister Mahesh Acharya einen Militäreinsatz befürworteten, distanzierte sich die militärische Führung des Landes deutlich vom Gedanken einer derartigen Einbeziehung. Als Zwischenlösung wurde schließlich die Schaffung einer bewaffneten Polizeitruppe in die Diskussion geworfen. Im Januar 2001 unterzeichnete König Birendra eine entsprechende Verordnung der NC-Regierung. Derartige Verordnungen bedürfen innerhalb von zwei Monaten einer gesetzlichen Absicherung durch das Parlament. Dies war jedoch wegen des Parlamentsboykotts durch die Oppositionsparteien nicht möglich. Kurzerhand ließ die Regierung daher den König nach Ablauf der Frist eine erneute Verordnung unterzeichnen, eine Maßnahme, mit welcher der demokratische Gedanke der Verfassung unterwandert wurde.

Mit Interesse darf in der nun laufenden 20. Sitzungsperiode die Reaktion des Parlaments beobachtet werden. Sollte der wiederholte Erlaß einer Verordnung letztlich als juristisch korrekt eingestuft werden, dann würde automatisch auch die konstitutionelle Regelung der Ausrufung eines Notstands durch den König zu Farce. In einem solchen Fall müßte nämlich das Parlament innerhalb von maximal 6 Monaten zustimmen. Nach Artikel 115 der Verfassung liegt die Voraussetzung für eine Notstandsausrufung vor, wenn die Souveränität, Integrität und Sicherheit des Landes oder Teile desselben durch einen bewaffneten Aufstand gefährdet sind. Diese Voraussetzung ist durch die immer intensiver werdenden Attacken der NCP (Maoist) sicherlich erfüllt.

Doch die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Ausrufung ist zur Zeit wohl noch gering. Der neue König Gyanendra tritt zweifelsohne ein sehr schweres Erbe seines ermordeten Bruders an. Da ist zunächst das große Mißtrauen, das ihm aus großen Teilen der Bevölkerung begegnet und für das es verschiedene Gründe gibt. Viele Menschen in Nepal wollen nicht glauben, daß offenbar wahr ist was einfach nicht wahr sein darf. Niemand traut dem früheren Kronprinzen Dipendra eine derartige Tat zu.

Dies hängt sicherlich auch mit der großen Distanz von Königsfamilie und Volk zusammen. Zwar werden die Monarchen schon seit Generationen ob ihrer großen Volksnähe gepriesen, doch in Wirklichkeit verschanzen sie sich hinter hohen Palastmauern, und niemand außerhalb ist über die Ereignisse und das Leben dort informiert. Auch diejenigen, die aus beruflichen oder anderen Gründen Zugang zum Palast haben, wahren absolute Verschwiegenheit. So war es möglich, daß in der Öffentlichkeit ein Bild der Königsfamilie vermittelt und gepflegt wurde, das ohne jeden Makel und frei von den üblichen zwischenmenschlichen Spannungen und Problemen war, die den Menschen außerhalb der Palastmauern so vertraut sind.

Hartnäckig ausgetragene Meinungsverschiedenheiten über die Wahl der Ehepartnerin, und damit die Bestätigung des Verfalls traditioneller Kultur- und Verhaltensweisen, Mißbrauch von Alkohol, Drogenabhängigkeit, Besitz von und leichtfertiger Umgang mit Kriegswaffen usw., all das also, was offensichtlich eine ganz entscheidende Rolle bei dem Massaker vom 1. Juni gespielt hat, paßt nicht in das verklärte Bild der nepalischen Königsfamilie. Daher fällt es der Öffentlichkeit schwer, an diese Darstellung der Ereignisse zu glauben; daher scheut sich selbst die offiziell eingesetzte Untersuchungskommission, bestehend aus dem Obersten Richter und dem Parlamentssprecher, gerade diese Dinge näher zu hinterfragen, obgleich nur hier der Schlüssel zu einer Erklärung zu finden ist.

Ja, selbst die anfängliche Behandlung der Vorgänge durch Palast und Regierung scheint davon beeinflußt. Offensichtlich sprach Vizepremier Ram Chandra Paudel am Abend des Massakers, noch gezeichnet vom Schock, die Wahrheit. Danach setzte eine Verklärungspolitik ein, die letztlich der Gerüchteküche Tür und Tor geöffnet hat. Hierzu ist es wichtig zu wissen, daß die Nepali stets offen für Gerüchte aller Art sind, was auch für den politischen Bereich gilt, wie die vergangenen 11 Jahre recht lebhaft bewiesen haben. Am Ende war es fast unmöglich, in dem Gewirr von Aussagen, Meinungen und Behauptungen den Faden der Wahrheit im Auge zu behalten.

Als dies Palast und Regierung bewußt wurde, war es längst zu spät. Offensichtlich haben die Verantwortlichen in Nepal auch unterschätzt, daß sich die Zeiten geändert haben, daß die größeren Freiheiten der heutigen Verfassung und die verbesserte Bildung zunehmend mündige Bürger produziert hat, die sich ihre eigene Meinung bilden und mit dieser auch in die Öffentlichkeit gehen. So ist der offizielle Untersuchungsbericht, der leider so viele Fragen offen läßt, eine Erklärung, die der Wahrheit sehr, sehr nahe kommt, die aber vor allem auch dazu dienen soll, das aufbegehrende Volk zu beruhigen.

Fest steht jedenfalls, das König Gyanendra in der näheren Zukunft noch viel Überzeugungsarbeit leisten muß, wenn die negative Informationspolitik der ersten Stunden und Tage nach dem Massaker in Vergessenheit geraten soll. Dies bedeutet, daß er nur versuchen kann, den konstitutionell korrekten und auf Ausgleich bedachten Weg seines verstorbenen Bruders Birendra fortsetzt. Es gibt hin und wieder Verlautbarungen, Gyanendra sei als konservativ einzustufen, wobei man sich auf lange zurückliegende Aussagen stützt. Hier sollte man dem neuen König die Chance geben, sich zu bewähren. Was er 1990 während und unmittelbar nach der Demokratiebewegung gesagt haben mag, ist für die heutige Situation wenig aussagekräftig.

Die größte Bewährungsprobe aber wird schon sehr bald auf Gyanendra zukommen, wenn er sich seiner konstitutionellen Aufgabe bei einer friedlichen Beilegung des maoistischen „Volkskriegs“ widmen muß. Die Fäden hierzu liegen jedoch nicht in seinen Händen sondern bei den gewählten Volksvertretern und bei der Regierung. Hier sind viele Fragen offen: Werden die Politiker zur notwendigen Kooperation bereit sein? Wird es möglich sein, daß sie ihr Verhalten derart ändern, daß die zahlreichen verfassungskonformen Forderungen der Maoisten diskutiert werden können? Werden die Maoisten ihrerseits bereit sein, über jene Forderungen zu verhandeln, die im Widerspruch zur Verfassung stehen? Wird die Monarchie weiterhin eine bindende und ausgleichende Funktion in Nepal ausüben können?

Letztere Frage ist ganz eng verknüpft mit dem Schicksal der Monarchie an sich. Diese wurde durch das Massaker vom 1. Juni beinahe völlig ausgelöscht. Gyanendra ist es zuzutrauen, daß er mit der Zeit das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen kann, falls nicht erneute Katastrophen über das Land hereinbrechen. Aber was wird nach Gyanendra sein? Sein einziger Sohn, Paras, erscheint als König untragbar; bezeichnenderweise hat sein Vater ihn auch nicht zum Kronprinzen nominiert. Was bliebe, wäre allenfalls die Adoption eines anderen männlichen Mitglieds der königlichen Familie; Frauen sind in Nepal ja keine vollwertigen Menschen. Aber das ist zur Zeit alles reine Spekulation.

Das Militär

Die engste Einbeziehung des Monarchen bei der Lösung des maoistischen Konflikts ist in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der nepalischen Streitkräfte zu sehen. Traditionell hat in Nepal das Militär immer sehr loyal zum König gestanden. Sollte das Militär in den Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung der Maoisten einbezogen werden, würde der König aufgrund seiner Verfassungsfunktion formell eine solche Maßnahme leiten. Es würde der nepalischen Tradition entsprechen, daß das Militär dann seine Befehle nur vom König akzeptieren würde.

Im Augenblick erscheint die Einbeziehung des Militärs jedoch nicht als naheliegend. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Da ist zunächst der Sinn und Nutzen eines derartigen Vorgehens. Der maoistische „Volkskrieg“ ist längst zu einem flächendeckenden Ereignis geworden. Die Stärke der maoistischen Guerillatruppe wird auf rund 2.500 Personen geschätzt, die von einer 10.000 Personen umfassenden Miliz unterstützt werden. Dem gegenüber verfügt die Regierung über 110.000 Mann Polizei und bewaffnete Truppen, d.h. das zahlenmäßige Verhältnis beträgt etwa 1:9. Experten halten jedoch angesichts der nepalischen Gegebenheiten ein Übergewicht der staatlichen Truppen von bis zu 25:1 erforderlich, um derartige Guerillatruppen in Schach zu halten.

Die Einbeziehung des Militärs könnte also nur zu einer weiteren Eskalation des Konflikts und zu noch größerem Leid beitragen. Gleiches gilt natürlich auch für die unter fragwürdigen Umständen von der Koirala-Regierung geschaffene bewaffnete Polizeitruppe. Es ist daher verständlich, daß die Militärführung bis in diese Tage eine Beteiligung strikt abgelehnt hat. Dies paßt in das Bild einer Truppe, die sich in den vergangenen zehn Jahren einen guten Ruf erworben hat. Die Militärführung gilt als gut ausgebildet und politisch weitsichtig. Eine Beteiligung der Armee bei der Unterdrückung des maoistischen Konflikts wird dem Ansehen des Militärs in der Öffentlichkeit folglich eher schaden. Trotz ihres brutalen und vielfach menschenrechtsverletzenden Auftretens haben die Maoisten seitens der Bevölkerung einen immer größer werdenden Zuspruch. Nicht zuletzt die offensichtlich gut funktionierende Parallel-Verwaltung der Maoisten in ihren Hochburgen Rolpa, Rukum, Salyan und Jajarkot zeigt den Menschen, daß in Nepal eine praktische Politik auch ohne die Mißstände von Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmißbrauch möglich ist. Die militärischen Führer sind sich ganz offensichtlich bewußt, daß mit einer gewaltsamen Unterdrückung der Maoisten die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der maoistischen Bewegung nicht beseitigt würden; letztere liegen nämlich bei den Politikern in Kathmandu und dem von ihnen aufrechterhaltenen System.

So erschien also eine Beteiligung des Militärs bei der Unterdrückung der Maoisten bis zum 12. Juli 2001 wenig wahrscheinlich. In der Folge der brutalen maoistischen Attacken der letzten Tage, des von den Maoisten ausgerufenen Nepal bandh vom 12. Juli, der Wirtschaft und öffentliches Leben völlig lahmlegte, und der Verschleppung von über 70 Polizisten am gleichen Tag konnte die Koirala-Regierung erstmals den Einsatz des Militärs durchsetzen. Im Rahmen einer massiven Aktion im mittleren Westen Nepals soll die Armee im Nuwa VDC von Rolpa etwa 1500 Maoisten umzingelt haben. Genaue Zahlen und Angaben zu Opfern waren bei Redaktionsschluß noch nicht erhältlich.

Bei der Diskussion der Möglichkeiten muß jedoch auch noch eine andere Form der Einbeziehung des Militärs erwähnt werden, die mir als überzeugtem Demokraten zu nennen schwerfällt. Diese Option wäre eine Übernahme der Regierung durch das Militär für einen gewissen Zeitraum. Für 6 Monate wäre eine derartige Maßnahme unter Einbeziehung des Monarchen durch den Notstandsartikel 115 gedeckt. Ich bezweifle allerdings, daß ein derart kurzer Zeitraum ausreichen würde, die zahlreichen Mißstände zurechtzurücken. Außerdem sollten zunächst wirklich alle demokratischen Mittel ausgeschöpft werden. Nepal hat in der Vergangenheit ja bereits reichlich negative Erfahrung mit der Ausrufung des Notstandes gehabt; erinnert sei hier an den 15. Dezember 1960 als König Mahendra, der Vater des heutigen Königs, den Notstand erklärte, um das Land in eine dreißigjährige parteilose Phase absolutistischer Politik zu führen.

Regierung und Parteien

Der Schlüssel, eine derartige Entwicklung zu vermeiden, liegt vornehmlich bei den politischen Parteien und der Regierung. Sicherlich sind 10-11 Jahre der Demokratisierung noch eine recht kurze Phase, doch müssen sich die Politiker in Nepal die Frage stellen, was falsch ist an der Richtung, die eingeschlagen wurde. Ist die heutige Situation wirklich das, was die Menschen in Nepal sich 1990 erhofft und die Politiker ihnen mit so malerischen Worten versprochen hatten? Welchen Nutzen haben die Politiker und welchen haben ihre Wähler aus der Demokratisierung des Landes gezogen?

Es scheint, als hätte sich einerseits das Leben der politischen Führer über Nacht verändert: Gestern noch hatten sie nichts und wurden wegen ihrer politischen Gesinnung verfolgt, heute leben viele von ihnen in Wohlstand und Luxus. Kennzeichnend für das Volk auf der anderen Seite ist eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Entwicklung des „demokratischen Systems“. Statt einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen sehen sich die Menschen mit wachsender Armut, Unsicherheit und Zunahme der Gewalt auf den Straßen, Qualitätsrückgang der Bildung, Verfall öffentlicher Moral, einer sich weitenden Kluft zwischen den wenigen Reichen dort oben und der großen Masse der Armen und Ärmsten sowie ständigen bandhs, Streiks und Demonstrationen konfrontiert.

Macht es da Wunder, daß die Menschen das Vertrauen in die Demokratisierung verlieren? Demokratie erscheint ihnen vor allem als Machtausstattung der politischen Parteien, als Rechtfertigung der Politiker zu tun, was immer sie wollen. Macht wird ausgeübt auf Kosten der Allgemeinheit. Ständig werden die Menschen terrorisiert durch die Ausrufung von bandhs und sinnlosen Demonstrationen, durch das Schließen von Schulen, durch die Abschaffung öffentlicher Einrichtungen, durch den Mißbrauch staatlicher Gelder. Nicht Qualifikation entscheidet über die beruflichen Chancen der Menschen, sondern einzig und allein das richtige Parteibuch, am besten gepaart mit der richtigen Kastenzugehörigkeit.

Dürfen die Menschen wirklich erwarten, daß sich die Politiker unter dem Eindruck der verschärften Krise endlich eines Besseren besinnen, daß sie ablassen von ihren internen und teilweise sehr persönlichen Machtkämpfen, von Korruption und Vetternwirtschaft? Viele entschuldigen den bisher so geringen Erfolg der Demokratisierung Nepals mit der Kürze der Zeit und ziehen Vergleiche zu dem langsamen Wachsen demokratischer Institutionen in westlichen Ländern. Sie lassen dabei aber die besondere Situation außer Acht, in der sich das Land befindet. Der Zeitfaktor mag gerechtfertigt sein, doch steht Zeit nicht mehr zur Verfügung. Abgesehen davon ist das negative Verhalten der Politiker auch mit der mangelnden Vorlaufzeit der Demokratie nicht zu entschuldigen. Wenn die Demokratie Nepals in ihrer jetzigen Form noch eine Chance haben soll, dann müssen die Politiker sofort handeln. 14-Punkte-Programme und ähnliches, die nur dazu dienen, den status quo zu wahren und die Machtansprüche zu verlängern, sind kein Lösungsansatz. Der Wandel in der Einstellung der Politiker muß sofort und radikal erfolgen.

Die Maoisten

Nicht zuletzt drängt die Zeit auch deshalb, weil die Maoisten ganz offensichtlich die Gunst der Stunde nutzen wollen, um ihre Sache voranzutreiben. Die Auslöschung fast der gesamten Königsfamilie am 1. Juni kam auch für die Maoisten überraschend. Schneller als alle anderen aber haben sie es einmal mehr verstanden, sich der veränderten Situation anzupassen. Die durch die negative Informationspolitik von Palast und Regierung geschürte Gerüchteküche wurde geschickt genutzt, den neuen König in Mißkredit zu bringen und Indien der Beteiligung an einer Verschwörung zu bezichtigen. Unterdessen kommt der verstorbene König Birendra, dessen Amt man noch vor wenigen Wochen abschaffen wollte, weil man in der Person des Königs das Grundübel für Nepals verfahrene Situation sah, auf einmal erstaunlich gut weg in der maoistischen Kritik.

Während die Regierung noch überlegt, wie sie ihr Leben verlängern und den neuen Etat unter Dach und Fach bringen kann, und die Opposition ihre Zeit mit Überlegungen verbringt, wie sie Premierminister Koirala möglichst rasch stürzen kann, und ob sie dazu eventuell erneut die Parlamentsarbeit boykottieren soll, haben die Maoisten ihre Aktivitäten enorm verstärkt. Längst sind ihre Terroranschläge zu einem alltäglichen Ereignis geworden, und dies nicht nur in den bekannten maoistischen Kerngebieten.

Das östliche Tarai sieht sich seit dem Palastmassaker verstärkt im Zentrum maoistischer Anschläge, aber auch der Ring um die Hauptstadt wird enger. In den vergangenen Tagen sind wiederholt Bomben in Kathmandu selbst entdeckt worden und teilweise auch explodiert, wobei auch Baluwatar, der Stadtteil, in dem der Premierminister und andere Mitglieder der Staatselite wohnen, nicht verschont wurde. Am 7. Juli, dem erstmals als nationalen Feiertag zelebrierten Geburtstag König Gyanendras, eskalierten die maoistischen Anschläge; mindestens 40 Polizisten fielen dem maoistischen Terror in den westlich des Kathmandutals gelegenen Distrikten Lamjung, Gulmi und Nuwakot zum Opfer.

Die Maoisten mögen sich in den vergangenen Jahren mit ihrer Argumentation und ihren Forderungen, zum Teil aber auch mit ihrer positiven Arbeit in ihrem Kernland der Distrikte Rolpa, Rukum, Salyan und Jajarkot große Sympathien im Bereich der überwiegend armen und zunehmend perspektivlosen Bevölkerung erworben haben; mit ihrer Eskalation der Gewalt, dem sinnlosen, brutalen und menschenrechtsverachtenden Vorgehen gegenüber den Polizeikräften und der blinden Zerstörungswut gegenüber öffentlichem Eigentum machen sie jedoch viele der gewonnenen Pluspunkte zunichte.

Ihr Vorgehen ist in gleicher Weise unverantwortlich gegenüber dem nepalischen Volk, wie es die Verhaltensweise der gewählten Politiker ist. Beide Seiten zerstören und mißbrauchen öffentliches Eigentum und gefährden damit die Zukunft des Landes. Es ist höchste Zeit für einen sofortigen Waffenstillstand und einen ernsthaften Dialog zwischen Staat und Aufständischen. Beide Seiten reden seit Monaten davon, aber vor allem wegen der Haltung der Regierung ist ein solcher Dialog bisher nicht zustande gekommen. Dabei sind die Angebote der Maoisten in jüngster Zeit besser geworden. Man spricht gar von einer nationalen Regierung mit maoistischer Beteiligung. Hierzu paßt auch der innerparteiliche Dialog, der in letzter Zeit offensichtlich stattgefunden hat. Bei einem Treffen mit ähnlich gesonnenen Parteien im indischen Westbengalen distanzierte sich die CPN (Maoist) vom bisher so hartnäckig verfolgten stalinistischen Kurs und plädierte für eine Meinungsvielfalt innerhalb der Partei. All dies kann als Andeutung der Dialogbereitschaft der Maoisten gewertet werden. Es fragt sich nur, was noch alles passieren muß, ehe die Regierung ihren bisher leeren Worten Taten folgen läßt. Der jüngste Einsatz des Militärs läßt indes befürchten, daß die Auseinandersetzungen eine neue Intensität erleben, deren Auswirkungen nicht abzusehen sind.

Eine umfangreiche Linksammlung zu Informationen über das Palastmassaker und seine Folgen finden Sie unter http://nepalresearch.com/politics/background/royal_tragedy.htm


Copyright © 2001, Karl-Heinz Kraemer