Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine
Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung
1994.
Unfälle
Der Mann, der morgens Grünfutter holen
ging
Ein junges Ehepaar, das zwei Söhne hatte, zog sich während des
Winters mit seinen Tieren unten ins Tal oberhalb des Flusses zurück, wo es wärmer war.
Eines Morgens, als die Kinder noch schliefen, ging der Mann weiter den steilen Hang
hinauf, um Grünfutter für die Tiere zu beschaffen.
Nun war der Berghang über der Hütte besonders steil. Der Mann muß
wohl etwas unvorsichtig gewesen sein, vielleicht waren die Steine am Morgen aber auch
naß. Jedenfalls rutschte er ab, stürzte den Hang hinunter und prallte genau auf das Dach
seiner Hütte. Die Kinder wurden durch das Gepolter aus dem Schlaf geweckt. Ihre Mutter
war gerade Wasser holen. Als sie nach Hause zurückkehrte, fand sie ihren Mann nur noch
tot vor. Er muß wohl während des Sturzes mehrfach gegen Felsen geprallt sein und war
daher auf der Stelle tot.
Seine Frau hat nie wieder geheiratet. Sie wurde jedoch von ihren
Söhnen sehr geschätzt. Nach der Heirat ihrer Söhne blieb sie entgegen der üblichen
Sitte beim älteren Sohn wohnen, da sie sich mit dessen Frau besonders gut verstand.
Der junge Schwiegersohn
In Chulemo lebte ein junger Mann aus dem Salaka-Klan. Er war war
etwa zwei Jahre zuvor mit einem Mädchen aus dem Binasa-Klan verheiratet worden, das im
gleichen Dorf lebte. Beide waren noch nicht zusammengezogen, sondern lebten noch immer in
ihren Elternhäusern. Der Mann war von kräftiger Gestalt und wurde allgemein für seinen
Fleiß gelobt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß er viele Pickel im Gesicht
hatte. Als ich ihn zuletzt traf, hatte er gerade seine Frau eingeladen und kochte für
sie.
Eines Tages kletterte der junge Mann auf einen hohen Eichenbaum, um
Grünfutter für die Tiere zu schneiteln, wie das bei uns so üblich ist. Er war weit und
breit ganz allein, als das Unglück passierte. Er rutschte auf den Ästen aus und stürzte
auf die Steine und Felsbrocken am Boden. Zwei andere junge Männer, die zufällig
vorbeikamen, fanden ihn schwerverletzt auf dem Boden vor. Sie schleppten ihn mit vereinten
Kräften ins Dorf hinunter. Sein Vater und sein Schwiegervater waren an jenem Tag auf dem
Wochenmarkt in Dorphu (heute verlegt nach Salleri) gewesen. Sie kamen gerade wieder im
Dorf an, als ihr Sohn dorthin gebracht wurde. Dieser war nicht mehr in der Lage zu
sprechen und starb kurz darauf in den Armen des Schwiegervaters.
Für seine Frau war die Ehe damit beendet, ehe sie richtig begonnen
hatte. Ich habe sie zuletzt gesehen, als sie während des zweiten Totenfestes für ihren
Ehemann, das am 49. Tag nach dem Tode gefeiert wird, eifrig beim Wasserholen und anderen
Tätigkeiten half. Sie hatte den Tod ihres Mannes offensichtlich leicht verkraftet und war
wieder sehr fröhlich. Sie bekam später einen Kropf und wollte ihn wegmachen lassen.
Hierzu wollte sie in ein fremdes Land gehen. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist.
Schlechte Nachrichten vom schwarzen Raben
Wenn es windig wird, werden die Vögel sehr unruhig und schreien und
zwitschern intensiv. Oft schmeißen die Leute dann Steine nach ihnen, weil sie glauben,
daß die Vögel schlechte Nachrichten bringen, die die Menschen aber nicht hören wollen.
So saß eines Tages auch ein großer schwarzer Rabe auf einem Baum in der Nähe unseres
Hauses und schrie ganz laut "Krah! Krah!".
Dies war für meine Mutter, die fest an derartige Volksweisheiten
glaubte, ein sehr schlechtes Omen. Als mein Vater am nächsten Morgen unbedingt seine
Arbeit vom Vortag fortsetzen wollte, versuchte meine Mutter daher mit allen Mitteln, ihn
von diesem Vorhaben abzubringen. Doch bei meinem Vater war dies wie üblich vergebene
Liebesmüh'. Also ging er wieder in den Wald, um Äste von großen Ahornbäumen
abzuhacken. Bei den ersten beiden Ästen lief auch alles ganz normal. Der dritte Ast brach
aber ab, nachdem Vater gerade ein wenig daran gehackt hatte. Der Ast federte zurück, und
die abgebrochene Spitze drang meinem Vater tief in die Brust.
Mutter hatte wohl ein ungutes Gefühl und ging, um nach ihm zu
rufen. aber sie erhielt keine Antwort. Schließlich fand man ihn noch oben auf dem Baum
vor. Er hatte ein großes Loch in der Brust und war an dem starken Blutverlust gestorben.
Mein älterer Bruder und ein Onkel holten den Leichnam vom Baum und schleppten ihn ins
Dorf hinauf.
Es wollte sich aber in unserem Dorf niemand finden, der den Leichnam
meines Vaters zum Verbrennungsplatz auf dem Bergrücken hoch oberhalb des Dorfes tragen
wollte. Alle erklärten, der Vater sei ihnen zu schwer. Das kann aber nicht der Grund
gewesen sein. Leichen werden aus Angst vor den Geistern der Toten meist nur von verarmten
Leuten getragen. Mein Vater hatte aber demonstrieren wollen, daß er keine Angst vor
Geistern hatte, und hatte daher häufig Leichen getragen. So hatte er einmal auch während
einer Schwangerschaft meiner Mutter den Geisterglauben widerlegen wollen und eine Leiche
geschleppt. Die Dorffrauen hatten meiner Mutter eingeredet, daß dies nicht gut für die
Schwangerschaft sei. Meine Mutter erlitt eine Fehlgeburt.
Vater war im Frühjahr gestorben, als fast alle Leute nicht genug zu
essen hatten. So erklärte sich schließlich ein großer kräftiger Mann aus einem
Nachbardorf, dessen Vater auf eine ähnliche Art ums Leben gekommen war, bereit, gemeinsam
mit einem anderen jungen Mann die Leiche des Vaters zum Verbrennungsplatz zu tragen. Mein
Bruder erzählte, er habe ihn schon vor der Haustür verbrennen wollen. Alle waren so
geschockt und betrübt, daß sie kein Wort mehr sprechen konnten. Die Leute sagten, Vaters
Zeit sei jetzt abgelaufen; er habe keinen Tag mehr zu leben gehabt. Nach der Vorstellung
der Sherpa gibt es iwi khalwi, eine Art Lebensmutter. Wenn ein Kind das Licht der
Welt erblickt, gibt ihm iwi khalwi ein paar Schläge auf den Po (daher haben die
kleinen Kinder einen blauen Fleck) und bestimmt die Dauer seines Lebens. Wenn diese Zeit
abgelaufen ist, muß der Mensch sterben.
Das Kind, das keiner haben wollte
Ein Mädchen lebte einst bei ihrem Stiefbruder in unserem Dorf,
obwohl seine Eltern noch lebten. Seine Mutter war einmal verwitwet und einmal geschieden.
Sie hatte wieder geheiratet und lebte in einem anderen Dorf. Der Vater des Mädchens war
bereits ein alter Mann; er lebte in einem anderen Nachbardorf bei einer Tochter, obgleich
er auch drei wohlhabende Söhne hatte. Das Mädchen war etwa so alt wie die jüngste
Tochter ihres Bruders, bei dem sie lebte. Sinnigerweise hießen beide Yongmi. Das
Mädchen konnte ihre Schwägerin, die Frau ihres Bruders, sehr gut leiden. Eigentlich
hätten alle ihre Neffen zu ihr "ani" (Tante) sagen müssen, aber da jene
alle älter als sie waren, sprach sie selbst ihre Neffen mit "achu"
(älterer Bruder) an.
Eines Tages wollte sie nach Dorphu zum Markt gehen. Einer ihrer
Neffen aber sagte, er würde gehen. Daher zog das Mädchen stattdessen mit einer Ladung
Heu auf die Almen. Auf dem Weg dorthin ist sie mir noch begegnet. Kurze Zeit später
hörte ich, daß sie oben auf den Almen von einem Eichenbaum gestürzt war; sie konnte
sich nicht mehr bewegen. Eine gute Woche hat sie so dort oben gelegen und nach ihrer
Schwägerin geschrien. Ihre Familienmitglieder konnten ihr aber nicht mehr helfen; das
Mädchen starb.
Als man ihren Leichnam für die Verbrennung vorbereitete, entdeckte
man, daß sie um ihren Leib einen kara, einen Stoffgürtel, geschnürt hatte, den
sie einige Zeit zuvor in unserem Dorf einem Mönch abgenommen hatte. Dieser Mönch
gehörte dem Binasa-Klan an. Die Leute erklärten nun, das Mädchen aus dem Salaka-Klan
sei offensichtlich in den Mönch verliebt gewesen. In Wirklichkeit war ich aber selbst
dabei, als sie diesem Mönch den Gürtel aus Schabernack gewaltsam entwendet hatte. Aber
vielleicht war sie wirklich verliebt gewesen.
Man hat das Mädchen oben auf den Almen verbrannt. Zu dem großen
Totenfest, das nach 49 Tagen bei uns im Dorf abgehalten wurde, sind dann auch die Mutter
und ihr Stiefvater gekommen. Die letzten Worte ihrer Mutter, die ich mitbekommen habe,
waren an die weinende Frau ihres Stiefsohnes gerichtet, sie solle nicht trauern, sie habe
schließlich genug für das Mädchen getan. Ihr leiblicher Vater war bereits zuvor
gestorben. Auch seinen Leichnam hatten die Söhne in unser Dorf geschleppt und ein großes
Totenfest gefeiert; zu seinen Lebzeiten aber hatten sie sich überhaupt nicht um ihn
gekümmert. Wenn man aber nicht einmal ein richtiges Totenfest für seine Eltern feiert,
reden die Leute schlecht über einen. Das wollten die Söhne wohl vermeiden.
Das Mädchen, das vor der Heirat davonlaufen wollte
In unserem Dorf lebte ein Mädchen, dessen Mutter bei der Geburt der
dritten Tochter gestorben war. Ihr Vater hatte danach die Schwester seiner Frau
geheiratet. Nun wohnte die Familie zeitweise im Nachbardorf und zeitweise in unserem Dorf.
Hier lebte auch ihre Großmutter mütterlicherseits.
Diese leitete die Hochzeit des Mädchens mit einem Jungen aus dem
Dorf ein. Als nach etwa einem Jahr die Heiratszeremonien abgehalten werden sollten, wurde
dem Mädchen immer bewußter, daß es diesen Jungen nicht heiraten wollte. Daher
überlegte sie sich, daß es wohl besser wäre, davonzulaufen. So sprach sie auch mich an,
ob ich nicht mit ihr in Richtung Indien gehen wollte. Doch ich muß zugeben, daß ich
dieses Angebot nicht so sonderlich ernst genommen habe.
Die Großmutter traf sich unterdessen immer öfter mit der
zukünftigen Schwiegermutter des Mädchens. In dieser Zeit bauten die Eltern des Jungen
gerade ein neues Haus. Doch dieses neue Haus war kaum fertig, als die Mutter des Jungen
starb. Sein Vater bezeichnete das Haus daher als "Friedhof". Nun mußte zuerst
das Totenfest für die Frau durchgeführt werden. Danach aber wurde auch die
Eheschließung der jungen Leute vollzogen.
Wie es so üblich ist, lebte das Mädchen auch nach der
Eheschließung weiterhin bei seinen Eltern; die Wartezeit beträgt meist mindestens zwei
bis drei Jahre. Erst danach zog das Mädchen zu ihrem Ehemann. Kurze Zeit später war die
junge Frau mit einer schweren Reisiglast unterwegs. Dabei ist sie so unglücklich
gestolpert, daß sie kopfüber einen Abhang hinabstürzte. An den Folgen dieses Sturzes
starb die Frau.
Verbrennungen und Verbrühungen
Auf den Almen bei Tanggaphuk hatte einmal eine Sherpafamilie in
ihrer Almhütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand, eine größere Menge Milch (etwa
20-30 l) abgekocht. Wie es so üblich war, stellte man die Milch etwas abseits zum
Abkühlen. Wenn sie nur noch lauwarm war, wollte man eine Kelle Sauermilch hinzufügen, um
Dickmilch daraus herzustellen. Die Familie saß nun um das Feuer herum. Ihre einzige
Tochter, die schon laufen und sprechen konnte, ging nach hinten und zog sich dabei das
Hemd über den Kopf aus. Dabei stolperte sie und stürzte kopfüber in den heißen
Milchtopf. Als das Kind aufschrie, stürzten die Eltern sofort herbei und zogen es wieder
aus dem Topf heraus. Sie haben dann das Mädchen mit kaltem Wasser übergossen. Da die
Verbrühungen enorm stark waren, entschlossen sie sich, das Kind zu einem Arzt zu bringen,
der gerade in dem von Edmund Hillary erbauten Krankenhaus in Phaphlu weilte. Aber als sie
am Kloster oberhalb unseres Dorfes ankamen, war der Gesundheitszustand des Kindes bereits
so schlecht, daß die Mönche rieten, das Kind in Frieden sterben zu lassen. Als das
Mädchen kurz darauf starb, wollte sein Vater es zur Verbrennung wieder hinunter ins Dorf
tragen. Auf Anraten der Mönche wurde der Leichnam aber dann doch oberhalb des Klosters
verbrannt. Seine Eltern feierten ein genauso großes Totenfest, wie es sonst nur bei
Erwachsenen üblich ist.
Ein ähnlicher Fall ereignete sich in einem Dorf jenseits des
Passes. Dort hatte eine Familie einen großen Kessel mit Wasser zum Kochen von
Kartoffelnudeln aufgesetzt. Mehrere Personen waren mit der Herstellung der Zutaten
beschäftigt. Die Kinder krabbelten unterdessen um die Feuerstelle herum oder trieben ihre
Scherze. Leider ist es abends in den Sherpahäusern ziemlich dunkel. So hörten die
Erwachsenen zwar irgendwann einen lauten Plumps, machten sich aber keine sonderlichen
Gedanken dabei. Als sie das Feuer unter dem Topf etwas anfachten und die Flamme
aufloderte, sahen sie zu ihrem Entsetzen, daß das kleinste Kind in den Topf gefallen war
und sich nicht mehr rührte. Sie holten das Kind sofort aus dem Topf und gossen kaltes
Wasser darüber, aber sie konnten seinen Tod nicht mehr verhindern.
In einem anderen Dorf waren die Eltern auf das Feld gegangen, um
dieses für die Saat von Kartoffeln, Mais und Bohnen vorzubereiten. Währenddessen waren
die Kinder so ist das ab etwa drei bis vier Jahren üblich sich selber
überlassen. Eine Tochter hatte sich dicht neben das Feuer im Haus gelegt, um sich zu
wärmen. Als die Eltern nach einiger Zeit nach Hause kamen, stand die Haustür weit offen,
aber ihre Tochter war nirgends zu finden. So machten sich die Eltern auf die Suche.
Schließlich fanden sie sie in einem grünen Gerstenfeld. Das Mädchen war tot; seine
Kleider waren völlig verbrannt. Offensichtlich hatten sie Feuer gefangen, als das Kind zu
nahe am Feuer lag. Es war dann wohl in Panik aus dem Haus gestürzt. Ob der Tod eine Folge
der Verbrennungen oder eines Schocks war, konnte man nicht feststellen.
In einem weiteren Fall war ein Mädchen nachts, während seine
Mutter schlief, aus Mutters Arm gekrochen. Der Bruder der Frau wurde auf einmal wach und
hörte das kleine Kind schreien. Es war mit dem Kopf in die Feuerstelle geraten und seine
Haare standen in Flammen. Obgleich die Erwachsenen sofort einschritten, hatte das Feuer
bereits eine runde Tonsur in den Kopf eingebrannt. Die Leute legten frischen Kuhmist auf
die Brandwunde, weil sie nicht wußten, was sie sonst darauf tun sollten. Das Kind hat
überlebt, hatte aber sein Leben lang eine Glatze. Andere Kinder haben sie später immer
geärgert, indem sie ihr das Tuch oder die Mütze vom Kopf rissen.
Unfall und Justiz
Die Sherpa halten ihr Vieh gewöhnlich in gesonderten Ställen.
Diese sind normalerweise keine festen Gebäude, sondern leichte Hütten mit Dächern aus
geflochtenen Bambusmatten; im Winter werden auch die Wände mit Bambusmatten abgedichtet.
So haben die Tiere nicht nur Schutz gegen Wind und Wetter, sondern auch gegen wilde Tiere
wie Bergleoparden. Gewöhnlich werden die Tiere von Kindern bewacht, die dann auch nachts
dort schlafen. So hatten auch zwei kleine Kinder aus der Verwandtschaft die Kühe ihrer
Eltern zu bewachen. Es war Herbst, und die Eltern hatten bereits einen Teil der Heuernte
neben dem Stall aufgestapelt. Die Kinder hatten abends ihre Mahlzeit auf einem kleinen
Feuerchen zubereitet. Das Feuer diente nachts gleichzeitig zum Wärmen und zur
Abschreckung von Bergleoparden. Irgendwann legten sich die Kinder auf dem Boden auf einer
Heuunterlage zum Schlafen nieder. Spät am Abend hat sich eines der Tiere, die neben ihnen
angebunden waren, losgerissen und an dem Heuhaufen vergnügt, der ja eigentlich als
Wintervorrat gedacht war. Dabei muß die Kuh wohl durch die Feuerstelle gelaufen sein und
die Glut in der Gegend verstreut haben. Plötzlich fing der Heuhaufen Feuer. Ein Mann aus
dem Dorf sah das lodernde Feuer und alarmierte sofort das Dorf mit lautem Rufen. Sofort
eilten wir alle dorthin. Mein kleiner Vetter war wach geworden und stand nackt im Freien.
Er hatte vergeblich nach der Schwester gerufen. Alles war mit glühender Asche bedeckt.
Als die Erwachsenen sich zu der Schlafstelle der Kinder durchgekämpft hatten, fanden sie
das Mädchen tot vor; es war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Wie bei allen Todesfällen wollten die Leute am nächsten Tag die
üblichen Totenrituale abhalten. Hierzu wurde ein Laienlama aus einem Nachbardorf
herbeigeholt. Zufällig kam aber auch ein gebildeter Mann aus einem Dorf jenseits des
Takshindu-Passes vorbei. Dieser war sehr erstaunt, daß man diesen Unfall wie ein
Alltagsgeschehen behandelte. Er sagte, man müsse den Fall unbedingt der Polizei in
Salleri melden; vorher dürfe das Kind nicht bestattet werden. Die Dorfleute hatten Angst,
jemand könne die Überreste des Mädchens verschwinden lassen und ein Mordgerücht
verbreiten. Daher legten sie die Leichenteile in ein kleines Holzfaß, das sie ständig
bewachten. Es dauerte aber drei Wochen, ehe sich ein Beamter aus dem sechs Fußstunden
entfernten Distriktort ins Dorf bemühte. Er schaute sich die Leiche kurz an und machte
sich dann wieder auf den Rückweg. Nun endlich konnten die Totenzeremonien durchgeführt
werden.
Der Bruder des toten Mädchens hatte offensichtlich einen schweren
Schock erlitten. Bereits als einige Jahre zuvor seine leibliche Mutter starb, hatte der
Schamane gesagt, daß die verstorbene Mutter ihn holen werde, da sie so an ihrem einzigen
Sohn gehangen habe. Bevor der Leichnam der Frau aus dem Haus getragen wurde, hat man daher
den Jungen, eingehüllt in ein Decke, aus dem Haus geschickt und hinter dem Haus
versteckt, damit der Geist der verstorbenen Mutter ihn nicht mehr sähe. Dann führte der
Laienlama einen religiösen Tanz mit Glocke und Trommel auf. Während er den Raum
verließ, warf er einige Maiskörner auf den Weg. Hinter ihm folgten zunächst ein Träger
mit einer schwarzen Fahne und dann die Leichenträger mit dem Leichnam. Dann kamen Träger
mit einer weißen Fahne und dahinter mit Fahnen in unterschiedlichen Farben. Die weiße
Fahne soll den Toten den richtigen Weg weisen. Unterwegs stimmte die Mutter der Frau
traurige Lieder an, um die Tränen zu unterdrücken. Nach Vorstellung der Sherpa werden
Tränen zu Wasser und das Schluchzen zu Wind, wodurch dem Verstorbenen noch mehr Leid
zugefügt wird. Nachdem der Leichenzug hinter dem Bergrücken verschwunden war, brachte
man den kleinen ängstlichen Jungen wieder ins Haus. Offenbar wartete der Junge in der
Folgezeit ständig darauf, von seiner Mutter geholt zu werden; jedenfalls war er oft sehr
kränklich. Der Schock, den der Unfalltot seiner Schwester hervorgerufen hatte, gab ihm
wohl den Rest. Er hat sich nicht mehr richtig erholt und ist dann irgendwann gestorben. Es
heißt nicht umsonst im Sherpaglauben, daß la (die Lebensseele, das Ich) durch
einen plötzlichen Schreck oder Schock verloren gehen kann. Die Geister von Verstorbenen
oder Dämonen halten diese Seele dann fest. Die Schamanen versuchen manchmal, die Seele
wieder zurückzuholen, doch gelingt dies nicht immer.
Knochenbrüche
Als meine Großmutter mütterlicherseits den mittleren Bruder meiner
Mutter erwartete, hat sie einmal im Traum einen flachen Berg gesehen. Dies wurde als Omen
gewertet, daß mit dem Kind nicht viel anzufangen sein würde; er besaß in der Tat nur
eine recht geringe Intelligenz. Als er später bereits vier Kinder, zwei Mädchen und zwei
Jungen, hatte, verließ er seine Familie und ging nach Indien. Wir haben nie wieder etwas
von ihm gehört. Vielleicht ist er unterwegs auch gestorben. Irgendwann erkrankt auch
seine zurückgelassende Frau und starb bald darauf. Auch die älteste Tochter starb, so
daß die drei kleineren Geschwister ganz alleine dastanden. Daher haben die beiden anderen
Brüder meiner Mutter die Kinder bei sich aufgenommen. Der älteste Bruder war kinderlos
und nahm das Mädchen und den jüngeren der Brüder bei sich auf. Das Mädchen ist später
irgendwann gestorben, der Junge hat heute selbst viele Kinder. Sein älterer Bruder, der
bei dem anderen Bruder meiner Mutter unterkam, kletterte eines Tages auf einen Eichenbaum,
um Eichenlaub für die Kühe zu besorgen. Es war ein windiger Tag, und wieder krächtzten
die Raben. Daher versuchte meine Tante, den Jungen vom Besteigen des Baumes abzuhalten,
aber vergeblich. Es kam, wie es kommen mußte. Mein Vetter stürzte aus beträchtlicher
Höhe ab, aber er hatte Glück im Unglück; er hatte sich lediglich ein Bein gebrochen.
Aber das ist im Gebirge so fernab aller ärztlichen Betreuung durchaus nicht
ungefährlich. Mein Onkel, der Schamane, schiente das gebrochene Bein mit Hilfe von
halbierten Bambusrohren, wie man es auch bei Kühen macht, wenn sie sich ein Bein
gebrochen haben. Mein Vetter mußte lange Zeit liegen, aber die Schienung war
offensichtlich so gut, daß er später wieder ganz normal laufen konnte, ohne zu hinken.
Nicht immer sind die Knochenbrüche auf rein zufällige Unfälle,
die das harte Leben im Himalaya bedingt, zurückzuführen. Die Sherpa geben sich meist als
ein sehr friedfertiges Volk. Aber sie verabscheuen durchaus nicht jenes bierartige
Getränk, chang, oder den Kartoffelschnaps (arak). Bei bestimmten festlichen
Anlässen trinken sie auch ganz gerne einen oder auch mehr über den Durst. Und dann
lassen sie alle jene Agressionen aus sich heraus, die sich im Laufe des Jahres aufgestaut
haben. Sei es nun, daß sie sich über die Tiere der Nachbarn, die ihre Getreidefelder
geplündert haben, die Kinderstreitigkeiten oder das Frauengeschwätz beklagen, das sie im
Laufe des Jahres oft höflich lächelnd hingenommen haben. Unter zunehmendem
Alkoholeinfluß vergessen die Männer dann recht oft die ihnen angeborene Höflichkeit.
Dann sind sie von ihren Frauen kaum zu halten, und es kommt immer wieder zu großen
Prügeleien, die nicht selten zu schweren Verletzungen führen. So kann ich mich erinnern,
daß einmal ein Mann aus dem Dorf anschließend drei Rippen gebrochen hatte. Er konnte
nicht mehr laufen und mußte von vier Männern auf einer eigens dafür konstruierten Trage
zu seinem Haus geschleppt werden. Ich weiß nur, daß er später wieder normal laufen
konnte.
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