Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Unfälle

Der Mann, der morgens Grünfutter holen ging

Ein junges Ehepaar, das zwei Söhne hatte, zog sich während des Winters mit seinen Tieren unten ins Tal oberhalb des Flusses zurück, wo es wärmer war. Eines Morgens, als die Kinder noch schliefen, ging der Mann weiter den steilen Hang hinauf, um Grünfutter für die Tiere zu beschaffen.

Nun war der Berghang über der Hütte besonders steil. Der Mann muß wohl etwas unvorsichtig gewesen sein, vielleicht waren die Steine am Morgen aber auch naß. Jedenfalls rutschte er ab, stürzte den Hang hinunter und prallte genau auf das Dach seiner Hütte. Die Kinder wurden durch das Gepolter aus dem Schlaf geweckt. Ihre Mutter war gerade Wasser holen. Als sie nach Hause zurückkehrte, fand sie ihren Mann nur noch tot vor. Er muß wohl während des Sturzes mehrfach gegen Felsen geprallt sein und war daher auf der Stelle tot.

Seine Frau hat nie wieder geheiratet. Sie wurde jedoch von ihren Söhnen sehr geschätzt. Nach der Heirat ihrer Söhne blieb sie entgegen der üblichen Sitte beim älteren Sohn wohnen, da sie sich mit dessen Frau besonders gut verstand.

Der junge Schwiegersohn

In Chulemo lebte ein junger Mann aus dem Salaka-Klan. Er war war etwa zwei Jahre zuvor mit einem Mädchen aus dem Binasa-Klan verheiratet worden, das im gleichen Dorf lebte. Beide waren noch nicht zusammengezogen, sondern lebten noch immer in ihren Elternhäusern. Der Mann war von kräftiger Gestalt und wurde allgemein für seinen Fleiß gelobt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß er viele Pickel im Gesicht hatte. Als ich ihn zuletzt traf, hatte er gerade seine Frau eingeladen und kochte für sie.

Eines Tages kletterte der junge Mann auf einen hohen Eichenbaum, um Grünfutter für die Tiere zu schneiteln, wie das bei uns so üblich ist. Er war weit und breit ganz allein, als das Unglück passierte. Er rutschte auf den Ästen aus und stürzte auf die Steine und Felsbrocken am Boden. Zwei andere junge Männer, die zufällig vorbeikamen, fanden ihn schwerverletzt auf dem Boden vor. Sie schleppten ihn mit vereinten Kräften ins Dorf hinunter. Sein Vater und sein Schwiegervater waren an jenem Tag auf dem Wochenmarkt in Dorphu (heute verlegt nach Salleri) gewesen. Sie kamen gerade wieder im Dorf an, als ihr Sohn dorthin gebracht wurde. Dieser war nicht mehr in der Lage zu sprechen und starb kurz darauf in den Armen des Schwiegervaters.

Für seine Frau war die Ehe damit beendet, ehe sie richtig begonnen hatte. Ich habe sie zuletzt gesehen, als sie während des zweiten Totenfestes für ihren Ehemann, das am 49. Tag nach dem Tode gefeiert wird, eifrig beim Wasserholen und anderen Tätigkeiten half. Sie hatte den Tod ihres Mannes offensichtlich leicht verkraftet und war wieder sehr fröhlich. Sie bekam später einen Kropf und wollte ihn wegmachen lassen. Hierzu wollte sie in ein fremdes Land gehen. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist.

Schlechte Nachrichten vom schwarzen Raben

Wenn es windig wird, werden die Vögel sehr unruhig und schreien und zwitschern intensiv. Oft schmeißen die Leute dann Steine nach ihnen, weil sie glauben, daß die Vögel schlechte Nachrichten bringen, die die Menschen aber nicht hören wollen. So saß eines Tages auch ein großer schwarzer Rabe auf einem Baum in der Nähe unseres Hauses und schrie ganz laut "Krah! Krah!".

Dies war für meine Mutter, die fest an derartige Volksweisheiten glaubte, ein sehr schlechtes Omen. Als mein Vater am nächsten Morgen unbedingt seine Arbeit vom Vortag fortsetzen wollte, versuchte meine Mutter daher mit allen Mitteln, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Doch bei meinem Vater war dies wie üblich vergebene Liebesmüh'. Also ging er wieder in den Wald, um Äste von großen Ahornbäumen abzuhacken. Bei den ersten beiden Ästen lief auch alles ganz normal. Der dritte Ast brach aber ab, nachdem Vater gerade ein wenig daran gehackt hatte. Der Ast federte zurück, und die abgebrochene Spitze drang meinem Vater tief in die Brust.

Mutter hatte wohl ein ungutes Gefühl und ging, um nach ihm zu rufen. aber sie erhielt keine Antwort. Schließlich fand man ihn noch oben auf dem Baum vor. Er hatte ein großes Loch in der Brust und war an dem starken Blutverlust gestorben. Mein älterer Bruder und ein Onkel holten den Leichnam vom Baum und schleppten ihn ins Dorf hinauf.

Es wollte sich aber in unserem Dorf niemand finden, der den Leichnam meines Vaters zum Verbrennungsplatz auf dem Bergrücken hoch oberhalb des Dorfes tragen wollte. Alle erklärten, der Vater sei ihnen zu schwer. Das kann aber nicht der Grund gewesen sein. Leichen werden aus Angst vor den Geistern der Toten meist nur von verarmten Leuten getragen. Mein Vater hatte aber demonstrieren wollen, daß er keine Angst vor Geistern hatte, und hatte daher häufig Leichen getragen. So hatte er einmal auch während einer Schwangerschaft meiner Mutter den Geisterglauben widerlegen wollen und eine Leiche geschleppt. Die Dorffrauen hatten meiner Mutter eingeredet, daß dies nicht gut für die Schwangerschaft sei. Meine Mutter erlitt eine Fehlgeburt.

Vater war im Frühjahr gestorben, als fast alle Leute nicht genug zu essen hatten. So erklärte sich schließlich ein großer kräftiger Mann aus einem Nachbardorf, dessen Vater auf eine ähnliche Art ums Leben gekommen war, bereit, gemeinsam mit einem anderen jungen Mann die Leiche des Vaters zum Verbrennungsplatz zu tragen. Mein Bruder erzählte, er habe ihn schon vor der Haustür verbrennen wollen. Alle waren so geschockt und betrübt, daß sie kein Wort mehr sprechen konnten. Die Leute sagten, Vaters Zeit sei jetzt abgelaufen; er habe keinen Tag mehr zu leben gehabt. Nach der Vorstellung der Sherpa gibt es iwi khalwi, eine Art Lebensmutter. Wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt, gibt ihm iwi khalwi ein paar Schläge auf den Po (daher haben die kleinen Kinder einen blauen Fleck) und bestimmt die Dauer seines Lebens. Wenn diese Zeit abgelaufen ist, muß der Mensch sterben.

Das Kind, das keiner haben wollte

Ein Mädchen lebte einst bei ihrem Stiefbruder in unserem Dorf, obwohl seine Eltern noch lebten. Seine Mutter war einmal verwitwet und einmal geschieden. Sie hatte wieder geheiratet und lebte in einem anderen Dorf. Der Vater des Mädchens war bereits ein alter Mann; er lebte in einem anderen Nachbardorf bei einer Tochter, obgleich er auch drei wohlhabende Söhne hatte. Das Mädchen war etwa so alt wie die jüngste Tochter ihres Bruders, bei dem sie lebte. Sinnigerweise hießen beide Yongmi. Das Mädchen konnte ihre Schwägerin, die Frau ihres Bruders, sehr gut leiden. Eigentlich hätten alle ihre Neffen zu ihr "ani" (Tante) sagen müssen, aber da jene alle älter als sie waren, sprach sie selbst ihre Neffen mit "achu" (älterer Bruder) an.

Eines Tages wollte sie nach Dorphu zum Markt gehen. Einer ihrer Neffen aber sagte, er würde gehen. Daher zog das Mädchen stattdessen mit einer Ladung Heu auf die Almen. Auf dem Weg dorthin ist sie mir noch begegnet. Kurze Zeit später hörte ich, daß sie oben auf den Almen von einem Eichenbaum gestürzt war; sie konnte sich nicht mehr bewegen. Eine gute Woche hat sie so dort oben gelegen und nach ihrer Schwägerin geschrien. Ihre Familienmitglieder konnten ihr aber nicht mehr helfen; das Mädchen starb.

Als man ihren Leichnam für die Verbrennung vorbereitete, entdeckte man, daß sie um ihren Leib einen kara, einen Stoffgürtel, geschnürt hatte, den sie einige Zeit zuvor in unserem Dorf einem Mönch abgenommen hatte. Dieser Mönch gehörte dem Binasa-Klan an. Die Leute erklärten nun, das Mädchen aus dem Salaka-Klan sei offensichtlich in den Mönch verliebt gewesen. In Wirklichkeit war ich aber selbst dabei, als sie diesem Mönch den Gürtel aus Schabernack gewaltsam entwendet hatte. Aber vielleicht war sie wirklich verliebt gewesen.

Man hat das Mädchen oben auf den Almen verbrannt. Zu dem großen Totenfest, das nach 49 Tagen bei uns im Dorf abgehalten wurde, sind dann auch die Mutter und ihr Stiefvater gekommen. Die letzten Worte ihrer Mutter, die ich mitbekommen habe, waren an die weinende Frau ihres Stiefsohnes gerichtet, sie solle nicht trauern, sie habe schließlich genug für das Mädchen getan. Ihr leiblicher Vater war bereits zuvor gestorben. Auch seinen Leichnam hatten die Söhne in unser Dorf geschleppt und ein großes Totenfest gefeiert; zu seinen Lebzeiten aber hatten sie sich überhaupt nicht um ihn gekümmert. Wenn man aber nicht einmal ein richtiges Totenfest für seine Eltern feiert, reden die Leute schlecht über einen. Das wollten die Söhne wohl vermeiden.

Das Mädchen, das vor der Heirat davonlaufen wollte

In unserem Dorf lebte ein Mädchen, dessen Mutter bei der Geburt der dritten Tochter gestorben war. Ihr Vater hatte danach die Schwester seiner Frau geheiratet. Nun wohnte die Familie zeitweise im Nachbardorf und zeitweise in unserem Dorf. Hier lebte auch ihre Großmutter mütterlicherseits.

Diese leitete die Hochzeit des Mädchens mit einem Jungen aus dem Dorf ein. Als nach etwa einem Jahr die Heiratszeremonien abgehalten werden sollten, wurde dem Mädchen immer bewußter, daß es diesen Jungen nicht heiraten wollte. Daher überlegte sie sich, daß es wohl besser wäre, davonzulaufen. So sprach sie auch mich an, ob ich nicht mit ihr in Richtung Indien gehen wollte. Doch ich muß zugeben, daß ich dieses Angebot nicht so sonderlich ernst genommen habe.

Die Großmutter traf sich unterdessen immer öfter mit der zukünftigen Schwiegermutter des Mädchens. In dieser Zeit bauten die Eltern des Jungen gerade ein neues Haus. Doch dieses neue Haus war kaum fertig, als die Mutter des Jungen starb. Sein Vater bezeichnete das Haus daher als "Friedhof". Nun mußte zuerst das Totenfest für die Frau durchgeführt werden. Danach aber wurde auch die Eheschließung der jungen Leute vollzogen.

Wie es so üblich ist, lebte das Mädchen auch nach der Eheschließung weiterhin bei seinen Eltern; die Wartezeit beträgt meist mindestens zwei bis drei Jahre. Erst danach zog das Mädchen zu ihrem Ehemann. Kurze Zeit später war die junge Frau mit einer schweren Reisiglast unterwegs. Dabei ist sie so unglücklich gestolpert, daß sie kopfüber einen Abhang hinabstürzte. An den Folgen dieses Sturzes starb die Frau.

Verbrennungen und Verbrühungen

Auf den Almen bei Tanggaphuk hatte einmal eine Sherpafamilie in ihrer Almhütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand, eine größere Menge Milch (etwa 20-30 l) abgekocht. Wie es so üblich war, stellte man die Milch etwas abseits zum Abkühlen. Wenn sie nur noch lauwarm war, wollte man eine Kelle Sauermilch hinzufügen, um Dickmilch daraus herzustellen. Die Familie saß nun um das Feuer herum. Ihre einzige Tochter, die schon laufen und sprechen konnte, ging nach hinten und zog sich dabei das Hemd über den Kopf aus. Dabei stolperte sie und stürzte kopfüber in den heißen Milchtopf. Als das Kind aufschrie, stürzten die Eltern sofort herbei und zogen es wieder aus dem Topf heraus. Sie haben dann das Mädchen mit kaltem Wasser übergossen. Da die Verbrühungen enorm stark waren, entschlossen sie sich, das Kind zu einem Arzt zu bringen, der gerade in dem von Edmund Hillary erbauten Krankenhaus in Phaphlu weilte. Aber als sie am Kloster oberhalb unseres Dorfes ankamen, war der Gesundheitszustand des Kindes bereits so schlecht, daß die Mönche rieten, das Kind in Frieden sterben zu lassen. Als das Mädchen kurz darauf starb, wollte sein Vater es zur Verbrennung wieder hinunter ins Dorf tragen. Auf Anraten der Mönche wurde der Leichnam aber dann doch oberhalb des Klosters verbrannt. Seine Eltern feierten ein genauso großes Totenfest, wie es sonst nur bei Erwachsenen üblich ist.

Ein ähnlicher Fall ereignete sich in einem Dorf jenseits des Passes. Dort hatte eine Familie einen großen Kessel mit Wasser zum Kochen von Kartoffelnudeln aufgesetzt. Mehrere Personen waren mit der Herstellung der Zutaten beschäftigt. Die Kinder krabbelten unterdessen um die Feuerstelle herum oder trieben ihre Scherze. Leider ist es abends in den Sherpahäusern ziemlich dunkel. So hörten die Erwachsenen zwar irgendwann einen lauten Plumps, machten sich aber keine sonderlichen Gedanken dabei. Als sie das Feuer unter dem Topf etwas anfachten und die Flamme aufloderte, sahen sie zu ihrem Entsetzen, daß das kleinste Kind in den Topf gefallen war und sich nicht mehr rührte. Sie holten das Kind sofort aus dem Topf und gossen kaltes Wasser darüber, aber sie konnten seinen Tod nicht mehr verhindern.

In einem anderen Dorf waren die Eltern auf das Feld gegangen, um dieses für die Saat von Kartoffeln, Mais und Bohnen vorzubereiten. Währenddessen waren die Kinder – so ist das ab etwa drei bis vier Jahren üblich – sich selber überlassen. Eine Tochter hatte sich dicht neben das Feuer im Haus gelegt, um sich zu wärmen. Als die Eltern nach einiger Zeit nach Hause kamen, stand die Haustür weit offen, aber ihre Tochter war nirgends zu finden. So machten sich die Eltern auf die Suche. Schließlich fanden sie sie in einem grünen Gerstenfeld. Das Mädchen war tot; seine Kleider waren völlig verbrannt. Offensichtlich hatten sie Feuer gefangen, als das Kind zu nahe am Feuer lag. Es war dann wohl in Panik aus dem Haus gestürzt. Ob der Tod eine Folge der Verbrennungen oder eines Schocks war, konnte man nicht feststellen.

In einem weiteren Fall war ein Mädchen nachts, während seine Mutter schlief, aus Mutters Arm gekrochen. Der Bruder der Frau wurde auf einmal wach und hörte das kleine Kind schreien. Es war mit dem Kopf in die Feuerstelle geraten und seine Haare standen in Flammen. Obgleich die Erwachsenen sofort einschritten, hatte das Feuer bereits eine runde Tonsur in den Kopf eingebrannt. Die Leute legten frischen Kuhmist auf die Brandwunde, weil sie nicht wußten, was sie sonst darauf tun sollten. Das Kind hat überlebt, hatte aber sein Leben lang eine Glatze. Andere Kinder haben sie später immer geärgert, indem sie ihr das Tuch oder die Mütze vom Kopf rissen.

Unfall und Justiz

Die Sherpa halten ihr Vieh gewöhnlich in gesonderten Ställen. Diese sind normalerweise keine festen Gebäude, sondern leichte Hütten mit Dächern aus geflochtenen Bambusmatten; im Winter werden auch die Wände mit Bambusmatten abgedichtet. So haben die Tiere nicht nur Schutz gegen Wind und Wetter, sondern auch gegen wilde Tiere wie Bergleoparden. Gewöhnlich werden die Tiere von Kindern bewacht, die dann auch nachts dort schlafen. So hatten auch zwei kleine Kinder aus der Verwandtschaft die Kühe ihrer Eltern zu bewachen. Es war Herbst, und die Eltern hatten bereits einen Teil der Heuernte neben dem Stall aufgestapelt. Die Kinder hatten abends ihre Mahlzeit auf einem kleinen Feuerchen zubereitet. Das Feuer diente nachts gleichzeitig zum Wärmen und zur Abschreckung von Bergleoparden. Irgendwann legten sich die Kinder auf dem Boden auf einer Heuunterlage zum Schlafen nieder. Spät am Abend hat sich eines der Tiere, die neben ihnen angebunden waren, losgerissen und an dem Heuhaufen vergnügt, der ja eigentlich als Wintervorrat gedacht war. Dabei muß die Kuh wohl durch die Feuerstelle gelaufen sein und die Glut in der Gegend verstreut haben. Plötzlich fing der Heuhaufen Feuer. Ein Mann aus dem Dorf sah das lodernde Feuer und alarmierte sofort das Dorf mit lautem Rufen. Sofort eilten wir alle dorthin. Mein kleiner Vetter war wach geworden und stand nackt im Freien. Er hatte vergeblich nach der Schwester gerufen. Alles war mit glühender Asche bedeckt. Als die Erwachsenen sich zu der Schlafstelle der Kinder durchgekämpft hatten, fanden sie das Mädchen tot vor; es war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Wie bei allen Todesfällen wollten die Leute am nächsten Tag die üblichen Totenrituale abhalten. Hierzu wurde ein Laienlama aus einem Nachbardorf herbeigeholt. Zufällig kam aber auch ein gebildeter Mann aus einem Dorf jenseits des Takshindu-Passes vorbei. Dieser war sehr erstaunt, daß man diesen Unfall wie ein Alltagsgeschehen behandelte. Er sagte, man müsse den Fall unbedingt der Polizei in Salleri melden; vorher dürfe das Kind nicht bestattet werden. Die Dorfleute hatten Angst, jemand könne die Überreste des Mädchens verschwinden lassen und ein Mordgerücht verbreiten. Daher legten sie die Leichenteile in ein kleines Holzfaß, das sie ständig bewachten. Es dauerte aber drei Wochen, ehe sich ein Beamter aus dem sechs Fußstunden entfernten Distriktort ins Dorf bemühte. Er schaute sich die Leiche kurz an und machte sich dann wieder auf den Rückweg. Nun endlich konnten die Totenzeremonien durchgeführt werden.

Der Bruder des toten Mädchens hatte offensichtlich einen schweren Schock erlitten. Bereits als einige Jahre zuvor seine leibliche Mutter starb, hatte der Schamane gesagt, daß die verstorbene Mutter ihn holen werde, da sie so an ihrem einzigen Sohn gehangen habe. Bevor der Leichnam der Frau aus dem Haus getragen wurde, hat man daher den Jungen, eingehüllt in ein Decke, aus dem Haus geschickt und hinter dem Haus versteckt, damit der Geist der verstorbenen Mutter ihn nicht mehr sähe. Dann führte der Laienlama einen religiösen Tanz mit Glocke und Trommel auf. Während er den Raum verließ, warf er einige Maiskörner auf den Weg. Hinter ihm folgten zunächst ein Träger mit einer schwarzen Fahne und dann die Leichenträger mit dem Leichnam. Dann kamen Träger mit einer weißen Fahne und dahinter mit Fahnen in unterschiedlichen Farben. Die weiße Fahne soll den Toten den richtigen Weg weisen. Unterwegs stimmte die Mutter der Frau traurige Lieder an, um die Tränen zu unterdrücken. Nach Vorstellung der Sherpa werden Tränen zu Wasser und das Schluchzen zu Wind, wodurch dem Verstorbenen noch mehr Leid zugefügt wird. Nachdem der Leichenzug hinter dem Bergrücken verschwunden war, brachte man den kleinen ängstlichen Jungen wieder ins Haus. Offenbar wartete der Junge in der Folgezeit ständig darauf, von seiner Mutter geholt zu werden; jedenfalls war er oft sehr kränklich. Der Schock, den der Unfalltot seiner Schwester hervorgerufen hatte, gab ihm wohl den Rest. Er hat sich nicht mehr richtig erholt und ist dann irgendwann gestorben. Es heißt nicht umsonst im Sherpaglauben, daß la (die Lebensseele, das Ich) durch einen plötzlichen Schreck oder Schock verloren gehen kann. Die Geister von Verstorbenen oder Dämonen halten diese Seele dann fest. Die Schamanen versuchen manchmal, die Seele wieder zurückzuholen, doch gelingt dies nicht immer.

Knochenbrüche

Als meine Großmutter mütterlicherseits den mittleren Bruder meiner Mutter erwartete, hat sie einmal im Traum einen flachen Berg gesehen. Dies wurde als Omen gewertet, daß mit dem Kind nicht viel anzufangen sein würde; er besaß in der Tat nur eine recht geringe Intelligenz. Als er später bereits vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, hatte, verließ er seine Familie und ging nach Indien. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Vielleicht ist er unterwegs auch gestorben. Irgendwann erkrankt auch seine zurückgelassende Frau und starb bald darauf. Auch die älteste Tochter starb, so daß die drei kleineren Geschwister ganz alleine dastanden. Daher haben die beiden anderen Brüder meiner Mutter die Kinder bei sich aufgenommen. Der älteste Bruder war kinderlos und nahm das Mädchen und den jüngeren der Brüder bei sich auf. Das Mädchen ist später irgendwann gestorben, der Junge hat heute selbst viele Kinder. Sein älterer Bruder, der bei dem anderen Bruder meiner Mutter unterkam, kletterte eines Tages auf einen Eichenbaum, um Eichenlaub für die Kühe zu besorgen. Es war ein windiger Tag, und wieder krächtzten die Raben. Daher versuchte meine Tante, den Jungen vom Besteigen des Baumes abzuhalten, aber vergeblich. Es kam, wie es kommen mußte. Mein Vetter stürzte aus beträchtlicher Höhe ab, aber er hatte Glück im Unglück; er hatte sich lediglich ein Bein gebrochen. Aber das ist im Gebirge so fernab aller ärztlichen Betreuung durchaus nicht ungefährlich. Mein Onkel, der Schamane, schiente das gebrochene Bein mit Hilfe von halbierten Bambusrohren, wie man es auch bei Kühen macht, wenn sie sich ein Bein gebrochen haben. Mein Vetter mußte lange Zeit liegen, aber die Schienung war offensichtlich so gut, daß er später wieder ganz normal laufen konnte, ohne zu hinken.

Nicht immer sind die Knochenbrüche auf rein zufällige Unfälle, die das harte Leben im Himalaya bedingt, zurückzuführen. Die Sherpa geben sich meist als ein sehr friedfertiges Volk. Aber sie verabscheuen durchaus nicht jenes bierartige Getränk, chang, oder den Kartoffelschnaps (arak). Bei bestimmten festlichen Anlässen trinken sie auch ganz gerne einen oder auch mehr über den Durst. Und dann lassen sie alle jene Agressionen aus sich heraus, die sich im Laufe des Jahres aufgestaut haben. Sei es nun, daß sie sich über die Tiere der Nachbarn, die ihre Getreidefelder geplündert haben, die Kinderstreitigkeiten oder das Frauengeschwätz beklagen, das sie im Laufe des Jahres oft höflich lächelnd hingenommen haben. Unter zunehmendem Alkoholeinfluß vergessen die Männer dann recht oft die ihnen angeborene Höflichkeit. Dann sind sie von ihren Frauen kaum zu halten, und es kommt immer wieder zu großen Prügeleien, die nicht selten zu schweren Verletzungen führen. So kann ich mich erinnern, daß einmal ein Mann aus dem Dorf anschließend drei Rippen gebrochen hatte. Er konnte nicht mehr laufen und mußte von vier Männern auf einer eigens dafür konstruierten Trage zu seinem Haus geschleppt werden. Ich weiß nur, daß er später wieder normal laufen konnte.


Copyright © 1994, Lhakpa Sherpani