Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Das Verlassen der Heimat

Ureinwohnerin begegnet Menschen mit gelben Haaren und weißen Augen

Sie hatten eine saubere Haut und trugen keine Lumpen am Leib. Ihre Haare waren gelb, und sie hatten wasserfarbene – weiße, wie wir Sherpa zu sagen pflegten – Augen. Alte, Kranke, Schwache und kleine Kinder waren nicht darunter. Sie besaßen keine Rotznasen, die sie ständig an den Ärmeln abwischen mußten. Sie spuckten auch nicht in der Gegend herum, rülpsten, schlürften und schmatzten nicht. Sie aßen langsam, und sie sprachen eine Sprache, deren Laute wir nicht unterscheiden konnten. Sie zeichneten sich aus durch Klugheit, waren groß, diszipliniert und fröhlich bis normal denkend. Sie sahen nicht verhungert aus – Mißernten kannten sie offensichtlich keine. Unter ihnen war einer, den die anderen als Chef bezeichneten. Was hatten die nur für einen armseligen Chef! An den Hemdärmeln reichte der Stoff nicht, seine Schuhe hatten Löcher (Sandalen), auch die Hose reichte nicht bis übers Knie. Auf dem Kopf trug er einen wintzigen Hut. So stellte man sich einen sehr reichen Chef bei uns wahrlich nicht vor.

Das waren meine ersten Eindrücke von Europäern, als ich 1965 in Manidingma zu einem deutschen völkerkundlichen Expeditionsteam stieß, um mich als Trägerin zu bewerben. Die Leute hatten bei uns im Dorf erzählt, daß ein großer saheb (Herr) unterwegs sei. Mein jüngerer Bruder war tags zuvor mit anderen Kindern dorthin gegangen, um sich anzuschauen, wie die Leute aussahen. Seine Berichte machten mich neugierig, und so ging ich früh am nächsten Tag mit ein paar meiner Onkel nach Manidingma.

Als wir dort ankamen, war eine riesige Menschenmenge versammelt. Junge Frauen und Mädchen alberten herum und scherzten. Eine Frau hatte ein todkrankes Kind dabei. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie innerhalb von zwei Tagen ihre Schwiegermutter und ihren Ehemann verloren. Das alles hielt sie jedoch nicht davon ab, sich an dem fröhlichen Treiben zu beteiligen. Die Europäer, darunter auch Ärzte, regten sich sehr darüber auf. Sie konnten offensichtlich nicht begreifen, daß auch Tod und Krankheit ein ganz natürlicher Bestandteil des Sherpa-Lebens sind. Ich habe nie eine Frau gesehen, die geweint hat, weil ein Kind starb. Sie bekam im folgenden Jahr ohnehin wieder ein neues Kind; so hatte sie wenigstens nachts für einige Zeit Ruhe. Eine Sherpa-Weisheit besagt, daß eine Frau bis zu einem dharni (ca. 2,4 kg) Mist von einem Kind essen muß, bis daß es groß ist.

Alle Leute bemühten sich darum, einen Trägerjob zu erhaschen. Vielen Leuten, die angenommen und registriert worden waren, war bereits ihr Gepäck zugeteilt worden, und sie hatten sich auf den Weg in Richtung Khumbu gemacht. Alle Bewerber mußten zum Test nachweisen, daß sie eine Last von 30 bis 40 kg hochheben konnten. Der Sardar, Urdgyen aus Khumjung, schickte einige kleinere Kinder weg, die sich auch angestellt hatten. Auch ein großes Mädchen aus Chulemo, eines von elf Kindern, schaffte es nicht, mit der Last auf dem Rücken aufzustehen. Sie durfte den Heimweg antreten. Ich konnte die Last mit einer Hand hochheben und hatte keine Probleme, sie zu tragen. So wurde ich als Trägerin angenommen.

Ich mußte meinen Namen sagen: Lhakpa (Mittwoch). Dann schnappte ich den Sack und raste damit so schnell ich konnte hinter der langen Trägerschlange her den Berg hinunter in Richtung Womi Tsangbu-Brücke. Die Träger waren damit beschäftigt, sich gegenseitig zu schubsen und zu necken. Liebeslieder wurden gesungen, und das Hauptgesprächsthema der jungen Männer und Mädchen war Liebe und Heirat. Wenn ein Sherpa-Mädchen einen Jungen mochte, dann neckte sie ihn damit, daß sie ihm mit aller Kraft die Faust in den Rücken schlug, daß dem Jungen der Atem stockte.

Ich überholte nach und nach die Träger vor mir. Großvater hatte uns gelehrt, wir sollten immer vorneweg gehen, niemals hinten. Nur wer vorne gehe, könne das Ziel bestimmen und sich hin und wieder ausruhen. Jenseits des Womi Tsangbu sprach mich ein an der Expedition beteiligter nepalischer Student, Mali, an, wie alt ich sei. Ich antwortete: "Zwölf, vielleicht auch vierzehn! Ich weiß es nicht genau. Ich kann nicht lesen und schreiben." Er sagte, das stimme nicht, und fragte mich, wie ich denn nur mit einer derartigen Last so schnell den Berg hinaufrennen könne. Ich mußte schnell weiter. Bald war ich ganz vorne.

Gegen Abend kamen wir in einem Waldstück oben hoch hinter Dzomshawa an, wo wir übernachteten. Als alle schlafen gingen – die Träger schliefen im Freien –, suchte ich mir im Freien einen Platz neben einem Ehepaar. Ich legte mein Tuch nieder und versuchte zu schlafen. Irgendwann kam ein junger Mann und schlug sein Bett neben mir auf. Offensichtlich hatte er mich wegen meines äußeren Erscheinungsbildes für einen Jungen gehalten. Ich fühlte mich dadurch belästigt, stand auf und ging zu einem großen Zelt. Ich legte mich in das Vorzelt und schlief vor lauter Müdigkeit sofort ein. Als der Europäer, der in diesem Zelt schlief – ich glaube, es war Walter – am nächsten Morgen aufstand, wunderte er sich über den kleinen Gast in seinem Vorzelt.

An diesem zweiten Tag trafen wir in Buwa Sir Edmund Hillary. Er unterhielt sich mit unseren Europäern. Ich konnte damals aber nichts verstehen. An diesem Tag gingen wir bis unterhalb von Luklha. Am Abend wurden alle Träger namentlich aufgerufen und bekamen ihren Lohn ausgezahlt. Ich glaube, ich habe damals zwölf Rupien für die beiden Tage bekommen. Weil die Expedition an diesem Ort für einige Zeit verweilte, kehrten die Träger am folgenden Tag in ihre Dörfer zurück. Die Mädchen aus Chulemo forderten mich auf, mit ihnen nach Hause zurückzugehen. Da ich noch zögerte, sagten sie, sie würden oben im Wald auf mich warten. Sie haben aber vergeblich gewartet.

Aufnahme ins Expeditionsteam

Ich weiß nicht mehr, wie es sich ergab, aber ich konnte bei dem Expeditionsteam bleiben und bekam ein eigenes Zelt zugewiesen. Der Chef der Europäer fragte mich, ob ich mit nach Deutschland kommen wolle; er habe dort auch eine Frau und zwei Kinder. Die Leute erklärten mir, bis nach Deutschland müsse man einen ganzen Tag mit dem Flugzeug fliegen. Flugzeuge hatten wir zwar schon immer am Himmel vorbeifliegen sehen, daher war ich auch sogleich begeistert, aber unter Deutschland und der Entfernung konnte ich mir nichts vorstellen. Die Expeditionsmitglieder erzählten mir, in Deutschland käme das Wasser in den Häusern aus der Wand geflossen; man brauche es nicht an der Quelle zu holen. Außerdem gäbe es Geräte zum Erwärmen der Wohnungen. Das alles fand ich natürlich schon eine ganz tolle Sache. Die nepalischen Studenten erzählten mir, die Deutschen wären ein sehr kriegerisches Volk, die schon viel gekämpft hätten. Auch das imponierte mir.

Ich blieb also beim Expeditionsteam und bat die Mädchen aus Chulemo, meinen Vater davon zu unterrichten. Einige Tage später kam Vater mit meinem jüngeren Bruder Dawa vorbei. Vater hatte von meinen Plänen, nach Europa zu gehen, gehört und war sehr stolz. Aber er wollte tausend Rupien dafür haben, die er all jenen Leuten geben müßte, mit denen er bei Heiratsversprechen arak getrunken hätte. Vater ging es aber immer nur um das Schnapstrinken; am nächsten Tag wußte er nichts mehr von Heiratsversprechungen. Er behauptete jetzt, es würde bereits eine Hochzeitsfeier bevorstehen. Vater bekam schließlich dreihundert Rupien. Die Sache sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum, nur wuchs die Summe dabei auf 700 bis 1000 Rupien an.

Die Europäer statteten mich auch mit neuer Kleidung aus. So erhielt ich ein Hemd, eine Hose und Schuhe. Letztere bereiteten mir größere Schwierigkeiten. Es war das erste Mal, daß ich Schuhe anzog. So hatte ich Probleme, die Schnürsenkel der Turnschuhe einzufädeln. Ein Junge aus Khumjung, der auch Lhakpa hieß, half mir dabei.

Da die Expedition an diesem Ort für einige Tage verweilte, gruben sie ein Loch, das als Toilette diente. So wurde verhindert, daß alle irgendwo in der Gegend ihre Notdurft verrichteten und andere dann dort hineintraten. Die Europäer hatten auch Leinen spannen lassen, an denen sie ihre Wäsche und nassen Handtücher zum Trocknen aufhängen konnten. Da diese Leinen sehr tief hingen, nahm ich ein Khukri und hackte ein paar Äste ab, mit denen ich die Leinen stützte. Als ich im Wald war, hörte ich Marlis, das einzige weibliche Expeditionsmitglied außer mir, meinen Namen rufen. Es war nämlich Essenszeit. Ich antwortete aber nicht, so daß die Leute wohl glaubten, ich sei davongelaufen.

Zu meinen Hobbies gehörte in diesen Tagen das Sammeln von sämtlichen Konservendosen und von Silberpapier, das ich im Küchenabfall der Expedition fand. Ich fand diese Sachen damals so schön, weil sie etwas völlig Neues für mich waren. Als wir später unser Lager nach Luklha verlegten, waren meine Taschen voll von diesem Zeug. Da sagten die Europäer, die Sachen seien wertlos, und ich solle sie nicht mehr sammeln. Bei den Mädchen in Shorong war es damals üblich, Silberpapier als Schmuck in die Ohrlöcher zu stopfen.

Hin und wieder spielten die Küchenjungen Fußball. Sie forderten auch mich auf mitzumachen. Ich hatte jedoch keine Ahnung von diesem Spiel. So schnappte ich mir den Ball und rannte damit davon. Die Jungen beschwerten sich anschließend beim Teamchef, und ich mußte den Ball zurückgeben. Von da an durfte ich nicht mehr mitspielen.

Einmal kam ein Sherpa mit einem Pferd vorbei, das er den Europäern verkaufen wollte. Walter ließ sich einen Proberitt nicht entgehen. Aber es war ihm wohl doch zu lästig, das Pferd zu kaufen und anschließend nach Deutschland zu transportieren.

In einem Haus in der Nähe unseres Lagerplatzes fand einmal ein Totenfest statt. Den ganzen Tag über hörte man nur die Klänge von Trommeln und Becken. Ich ging mit Marlis und Sushil dorthin. Wir blieben vor dem Haus stehen und schauten dem Treiben zu. Zwei Männer verteilten aus großen Körben gekochten getrockneten Brei. Ich hatte gehofft, auch etwas davon zu bekommen, ging aber leer aus. Später bin ich mit Walter in das Haus hineingegangen. Am Ofen saß eine Frau, die ihrer Tochter, die gerade von der Laubernte zurückkehrte, zurief, sie solle draußen bleiben, der saheb habe einen Fotoapparat. Das Mädchen kam nicht ins Haus. Es herschte nämlich die Vorstellung, daß man krank würde, wenn Fotos von einem gemacht würden.

Einmal beobachtete ich einen Junge, der im Küchenbereich tätig war, wie er Wasser aus dem nahegelegenen Bach schöpfte. Ich forderte ihn auf, das Wasser doch weiter oben zu schöpfen, da etwas höher am Berghang noch ein Haus war. Der Junge behauptete, das Wasser sei auch hier unten sauber. Daher überredete ich einen anderen Sherpa, der dort wohnte, ein Faß mit frischem Wasser von dort oben herabzuschaffen. Ich bot ihm für diesen Dienst eine Rupie an. Er machte das auch, wollte anschließend aber sofort seine Rupie haben. Er machte ein riesiges Theater, als ich sagte, er müsse warten, bis mein Geld mit dem Gepäck angekommen wäre. Es war mir schon unangenehm, daß Marlis und Sushil auf das Spektakel aufmerksam wurden. So war ich froh, daß dann endlich mein Geld ankam und ich den jungen Mann bezahlen konnte.

Ein anderes Mal beobachtete Marlis, wie das Küchenpersonal anfing, Hühnchen zu rupfen, ohne daß sie sich vorher die Hände wuschen. Daher forderte sie Sushil auf, den jungen Männern Bescheid zu sagen, sie sollten sofort die Hände waschen, sie hätten ja zuvor andere Dinge angefaßt. Genauso durften sie auch nicht in einem kleinen gelben Eimer, der eigentlich ganz sauber aussah, Wasser für die Küche holen gehen. Marlis sagte nämlich, sie hätte ihre Wäsche darin gewaschen. Die Sherpajungen sahen das überhaupt nicht ein; schließlich war Marlis doch ganz sauber.

Ich hatte in diesen Tagen eigentlich nichts mehr zu tun und hatte daher viel Zeit für Beobachtungen. So lief ich überall herum und steckte mal eben meine Nase hinein. Einmal kam eine Gruppe indischer Bergsteiger auf dem Rückweg von Khumbu nach Kathmandu vorbei. Einer von ihnen, ein Sikh, spendierte mir im Rasthaus etwas chang. Ich habe mich damals sehr gefreut, daß diese wildfremden Inder so nett waren und mir chang spendierten.

Einmal sollte ich mit Mingma am Rand der Gerstenfelder ein paar wilde Erdbeeren pflücken, die dort in großen Mengen wuchsen. Die Sherpa betrachteten diese wilden Erdbeeren grundsätzlich als Unkraut und nutzten sie nicht. Ich weigerte mich, mit Mingma Erdbeeren zu pflücken und sagte, ich wolle stattdessen alleine pflücken gehen.

Es kamen immer wieder Leute vorbei, die von den Europäern Medikamente für irgendwelche Krankheiten haben wollten. Wenn die Europäer, unter denen sich auch drei Mediziner befanden, dann die Leute aufforderten, ihren Stuhl zur Untersuchung vorbeizubringen, lachten diese nur, weil sie darin keinen Sinn erblicken konnten. Sie taten dann aber doch, wie ihnen geheißen worden war. Einmal schleppte eine Frau ein Kind auf dem Rücken an. Die Frau hinkte sehr stark und bat daher ebenfalls um ein Medikament. Es stellte sich heraus, daß sie im Monsun von einer Schlange in den Fuß gebissen worden war. Sie hatte eine lange Narbe, die vom Fuß bis zum oberen Ende des Oberschenkels reichte. Natürlich konnten die Europäer in diesem Fall auch nicht viel machen.

Nach einiger Zeit mußte der Teamchef nach Deutschland zurück, während der Rest des Teams noch lange Zeit im Sherpa-Gebiet blieb. Der Chef hatte sich einen Fuß verstaucht und wartete einige Tage mit hochliegendem Bein auf das bestellte Flugzeug. Als dieses aber nicht kam, machte er sich zu Fuß auf Weg. Einen Tag später kam das Flugzeug doch noch. So etwas war damals in Luklha noch keine Alltäglichkeit. Daher gingen die Frauen alle schauen, ob die Piloten auch schön wären. Als das Flugzeug gelandet war, stiegen die Piloten aus, grinsten, kehrten den Frauen den Rücken zu und pinkelten. Da mußten auch die Frauen grinsen und drehten sich ihrerseits um.

Offensichtlich gab es auch ein paar Leute, die etwas neidisch auf meine Sonderrolle waren. Außer mir durften keine Sherpa beim Essen mit an den Klapptischen der Europäer und nepalischen Studenten sitzen. So hörte ich einmal, wie sich zwei Sherpa unterhielten. Sie meinten, daß es mir noch besser gehen würde als unserem Sardar Urdgyen, der sich sein Essen immer in sein Zelt bringen ließ.

Mit dem Forschungsteam in Khumbu

Irgendwann brachen wir unser Lager in Luklha ab und machten uns auf den Weg nach Namche. Unterwegs kam ich mit zweien unserer Träger ins Gespräch, einem Vater und seiner jugendlichen Tochter. Letztere war mindestens so kräftig wie ihr Vater und besaß einen sehr starken Willen. Die beiden erzählten mir eine ganze Menge darüber, was sich in der Gegend in letzter Zeit so ereignet hatte. So erfuhr ich, daß in einem Nonnenkloster oberhalb von Luklha eine Nonne jeden Tag die Geburt eines Kindes erwartete. Niemand wußte allerdings, wer der Vater war. Die Tochter berichtete von der Schule in Dungde. Dort sei ein Sherpa, der längere Zeit in Kathmandu gelebt habe und keine Sherpa-Sprache sondern nur Nepali spreche, als Lehrer tätig. Dieser Lehrer habe sich in eine Schülerin verliebt, und die beiden würden bald heiraten.

Etwas unterhalb von Namche schlugen wir noch einmal ein Nachtlager auf. Ich hatte mich in einem Rasthaus ans Feuer gesetzt, als ich hörte, daß Frauen mich sehen wollten. Sie hätten gehört, daß ein Shorong-Mädchen mit den Europäern nach Europa reisen würde. Sie waren nun neugierig, wie das Mädchen denn aussehe. Ich versteckte mich rasch unter einer Decke, und Migma sagte den Frauen, ich hätte mich bereits zum Schlafen niedergelegt. Irgendwann habe ich an diesen Vorfall gar nicht mehr gedacht und bin wieder umhergelaufen. Auf einmal standen die Frauen wieder da und meinten, so hübsch wäre ich doch gar nicht. Sie könnten gar nicht verstehen, warum die Europäer ausgerechnet mich mitnähmen.

In Namche haben wir uns nicht sehr lange aufgehalten, sondern gingen noch am selben Tag weiter nach Khumjung. Dort in Khumjung gab es sehr viele Stechmücken. Sie haben uns am ganzen Körper gebissen. Aber ansonsten hat mir die Zeit in Khumjung sehr gut gefallen.

In Khumjung wurden wir überall eingeladen. Es waren ja eine ganze Reihe Sherpa aus Khumjung an der Expedition beteiligt. So waren auch zwei Söhne des berühmten Sherpa-Künstlers Kapa Kalden – kapa bedeutet "Genie" – engagiert worden. Kapa Kalden war ein sehr ruhiger Mann mit langen Haaren, die hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden waren. Der jüngste Sohn von Kapa Kalden, Ang Rita, imponierte mir damals. Er mochte vielleicht elf oder zwölf Jahre alt sein und konnte bereits sehr gut englische Worte herunterplappern. Er besuchte die Hillary-Schule in Khumjung.

Einige Mädchen aus dem Ort berichteten ganz stolz, sie seien durch ein Fenster in das Haus des Lehrers eingestiegen und hätten dort etwas herausgeholt, was für sie sehr wichtig war. Die Mädchen hatten lackierte Fingernägel und die Lippen geschminkt. Es war das erste Mal, daß ich so etwas sah. Ich war ziemlich entsetzt und verstand das überhaupt nicht.

An einem Abend gab es ein großes Fest, zu dem das ganze Expeditionsteam eingeladen war. Nur Mali, der erkrankt war, und ich blieben im Zeltlager zurück. Wir hörten den ganzen Abend die Gesänge herüberklingen. Am nächsten Tag erzählten einige Sherpa, die Europäer hätten richtig mitgefeiert. Einige von ihnen hätten sogar noch besser getanzt als die Sherpa. Darüber zeigten sie sich sehr überrascht. Die Folge war, daß die hochgelobten Tänzer am nächsten Morgen schachmatt waren und erst aus ihren Betten krochen, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.

Einmal kam ein Mädchen aus Phukmoche vorbei. Sie sagte, sie wolle von zu Hause weglaufen. Sie hatte den besten Goldschmuck ihrer Mutter gestohlen und versuchte jetzt, diesen an Mitglieder des Expeditionsteams zu verkaufen. Natürlich wollte niemand diesen Schmuck haben.

In Khumjung lernte ich erstmals eine Sherpa-Frau kennen, die mit zwei Männern, zwei Brüdern, verheiratet war. Sie war zunächst nur mit einem der Brüder verheiratet gewesen. Als dieser für längere Zeit nach Indien ging, ließ sich die Frau auf ein Verhältnis mit dem Bruder ihres Mannes ein. Als dieser dann wieder aus Indien zurückkehrte, einigte man sich, die Dreierbeziehung fortzuführen.

Dann machten wir uns auf den Weg nach Tengbuche. Unterwegs trafen wir Leute mit Holzladungen auf dem Rücken. In der Umgebung von Khumjung gab es bereits damals nicht mehr genügend Holz. Daher holten die Leute das Holz aus den Wäldern unterhalb von Tengbuche. Unten am Fluß machten wir Rast. Als sich Mali dort unter einem Baum in den Schatten legte, forderte ich ihn auf, wieder aufzustehen, weil er sonst Malaria bekäme. Darüber konnte er jedoch nur lachen. Das Team war für mich und die anderen Sherpa wie eine große Familie. Ich glaubte daher, daß ich aufpassen mußte, daß auch niemand verloren ginge.

Beim Kloster von Tengbuche schlugen wir im Tannenwald unser Lager auf. Zweimal suchten wir den Vorsteher des Klosters auf. Er war damals noch jung und gutaussehend. Meine Tante hatte immer nur gute Dinge über ihn berichtet, so daß auch ich gut über ihn dachte. Sein Diener erzählte, daß er Probleme mit einem Europäer oder Amerikaner habe. Dieser sei sehr arm, völlig mittellos. Er käme immer zu den Mahlzeiten und würde dann die Hände aufhalten. Irgendwann habe der Diener dem Weißen gesagt, er brauche nicht mehr zu kommen; für ihn habe er nichts zu essen. Doch der Weiße habe geantwortet, er habe doch für den lama gekocht, und dieser würde ihm zu essen geben. Der Klostervorsteher sagte zu diesem Konflikt nichts. Während wir dort oben lagerten, kam dieser Weiße und setzte sich zu uns an den Tisch, ohne eingeladen worden zu sein.

Von Tengbuche liefen wir immer weiter in Richtung Chomolungma (Mount Everest). Wir gingen richtig durch die Wolken. Irgendwo hoch oben haben wir unsere Zelte aufgeschlagen. Von dort sind wir am nächsten Tag bis zu den Gletschern gelaufen. Vor uns war ein ganz tolles Naturschauspiel. Wir standen vor einem großen runden Teich, der rundum zugefroren war. Nur in der Mitte war ein Loch, in das das Wasser wie durch eine Rinne hineinfloß. Walter ging immer weiter und wir hinterher. Auf einmal sank er bis zu den Knien ins Eis ein, worüber ich mich amüsierte. Er fand das jedoch gar nicht so lustig und forderte mich wütend auf, ihm einen Stock zu reichen. Da habe ich ihn langsam mit meinem Stock herausgezogen. Die Europäer hatten danach die Nase voll und gingen zurück. Am nächsten Tag führte uns Urdgyen auf die andere Seite des Gletschers. Er wußte, wo hier Edelweiß wuchs und erzählte uns, daß dort drüben auch noch ein See sei. Wir sind aber nicht mehr dorthin gegangen. Unterwegs trafen wir auf eine Schaf- und Ziegenherde. Urdgyen erzählte uns, dies seien seine Tiere.

Der Weg nach Kathmandu

Schließlich machten wir uns wieder auf den Rückweg in Richtung Shorong. Dort machten wir unter anderem in Kharikhola Halt. Dort lebte ein Freund von Urdgyen, der schon den ganzen Tag auf Urdgyen gewartet hatte. Er war extra nicht auf das Feld gegangen und hatte bereits Kartoffeln gekocht. Aber Urdgyen kam selbst nicht, da er andere Aufgaben zu erledigen hatte. Da haben wir kurzerhand die Kartoffeln gegessen. Die Frau von Urdgyens Freund schimpfte ihren Mann aus, weil er bei dem schönen Wetter den ganzen Tag zu Haus saß. Der Mann spielte derweil mit seinem Baby und tat so, als habe er die Worte seiner Frau nicht gehört.

In Putil, unten am Womi Tsangpo schlugen wir unser Zelt auf. Das Team hatte sich zwischenzeitlich in mehrere Gruppen aufgelöst. Wir waren nur noch eine kleine Gruppe von fünf bis sechs Leuten. Zwei unserer gelehrten Männer, ein deutscher Geograph und ein nepalischer Geologe, entfernten sich von unserer Gruppe und sagten mir, ich solle nicht hinterherkommen. Ich nickte zwar, folgte ihnen aber doch. Offensichtlich waren die beiden verrückt geworden. Sie hatten sich bis auf die Unterhosen entkleidet und waren ins Wasser gestiegen. Nun sprangen sie darin herum, spritzten sich gegenseitig naß und lachten darüber. Bei so viel Unverstand konnte ich nur kopfschüttelnd weggehen.

Am nächsten Tag gingen wir alle zu meinem Elternhaus. Walter fragte, wie lange das dauern würde. Ich antwortete: "Zwei Stunden!". Nach einiger Zeit sagte er, es seien nun schon vier Stunden vergangen, und wir befänden uns immer noch am Berghang, ohne das Ziel vor Augen zu haben. Aber ich wußte ja auch nicht, wie lange zwei Stunden dauerten. Schließlich kamen wir doch in Yawa an, wo es wieder Kartoffeln zu essen gab. Gyan Bahadur schimpfte, dies sei ein Blutegelhaus, weil es überall von Blutegeln wimmelte, aber wir hatten sie ja von unterwegs mit ins Haus gebracht. Im Monsun waren sie immer eine Plage.

Walter wollte unbedingt den pradhan pancha unseres Dorfes sprechen. Aber in unserem Dorf gab es keinen. Mehrer umliegende Dörfer waren zu einem Dorf-Panchayat zusammengefaßt. Unser pradhan pancha wohnte in Chulemo. Daher schickten wir meinen älteren Bruder Gyaltsen dorthin, um ihn nach Yawa zu holen. Nach einiger Zeit kehrte Gyaltsen alleine zurück. Der pradhan pancha war von der Polizei verhaftet worden, weil andere Leute ihn angezeigt hatten, da seine Leute Honig von wilden Bienen genommen hatte, die von Gläubigen für einige Jahre freigekauft worden waren.

Mein kleiner Bruder war damals nicht zu Hause. Er war unterwegs, um Bambus zu schneiden. Ich sollte ihn erste zwölf Jahre später wiedersehen. Wir mußten uns nämlich schon bald wieder aufmachen, da wir noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder an unserem Lager ankommen wollten. Eine Frau aus dem Dorf soll sich später beschwert haben, ich hätte mich nicht einmal von ihr verabschiedet. Meine Familie schickte meine kleine Schwester Sarki hinter uns her, die ständig weinte und nach mir rief. Sie kehrte erst nach Hause zurück, nachdem Walter ihr ein paar Rupien gegeben hatte.

Am nächsten Tag gingen wir weiter nach Phaphlu. Unterwegs kamen zwei unserer Träger vom richtigen Weg ab. Sie erreichten Phaphlu erst einen Tag später. Einer unserer Träger war unser einstiger verarmter Bürgermeister Er sagte unterwegs, er habe keine Kräfte mehr und könne daher nicht mehr weitergehen. Offensichtlich war dies eine Folge seiner schlechten Ernährung. Ich habe ihn daher immer wieder aufgemuntert, so daß er den Weg doch noch schaffte. Unterwegs begegneten wir auch unserem pradhan pancha, den die Behörden offensichtlich wieder freigelassen hatten.

In Salleri sind wir zu unserer Distriktverwaltung gegangen. Am Abend zuvor hatte Ang Geli Lama, der jüngste Sohn einer einflußreichen Familie aus Phaphlu, meine Personalien auf einem Zettel zusammengeschrieben. Ich weiß noch, daß er geschimpft hat, weil ich mich währenddessen mit seiner Mutter so laut unterhalten hatte. Seltsamerweise sagte Ang Gelis Mutter damals zutreffend voraus, ich werde eines Tages zwei kräftige Söhne bekommen. Die Leute in der Distriktverwaltung bezweifelten jedoch, daß mich die Europäer überhaupt so einfach mitnehmen dürften. Sie sagten, da müßte man erst die Polizei fragen. Darüber hat sich Gyan Bahadur sehr aufgeregt und einfach gesagt, er sei auch Polizist. Er hat sich damals sehr für mich eingesetzt. Andererseits schimpfte er mich aus, weil ich ihn auf Nepali immer mit timi (du) anstatt mit der höflichen Form tapain (Sie) anredete. Aber das Nepali war ja schließlich nicht meine Muttersprache. Die Leute in Shorong sprachen eben kein Hochschulnepali. Sie hatten die Sprache nur vom Hören gelernt. Dennoch habe ich, wie überhaupt meine Generation damals, lieber Nepali gesprochen. Das war für uns modern. Wir wollten uns damit von den alten Tanten abheben, die nicht einmal die Türen öffneten, weil sie sich nicht unterhalten konnten. Sie beschäftigten daher auch keine Kami, deren Muttersprache ja das Nepali ist. Sie gaben dabei als Grund an, daß sie die Kami immer draußen vor der Tür bedienen müßten, weil diese nicht die Sherpa-Häuser betreten durften. Für uns aber war der Umgang mit den Kami eine unterhaltsame Bereicherung unseres Lebens. Unsere Kami-Freunde aus Dekhu bezeichneten meine Mutter als tsam (sh. Schwägerin) und meinen Vater als daju (nep. älteren Bruder).

In Phaphlu veranstalteten wir ein großes Abschiedsfest. Dazu kam das gesamte Expeditionsteam noch einmal zusammen. Auch Ang Geli und seine amerikanische Frau Barbara, die fließend Nepali sprach, hatten wir dazu eingeladen. Mein Dialog mit einem der an der Expedition beteiligten Mediziner bestand an jenem Abend darin, daß er mir mit einem kleinen Stöckchen scherzhaft auf den Kopf schlug. Da nahm ich einen größeren Stock und schlug ihm damit kräftig vors Schienbein. Ich weiß nicht, ob das weh tat, jedenfalls humpelte er hinterher. Irgendwann hatte Barbara ein menschliches Bedürfnis zu erfüllen. Sie ging mit einer Taschenlampe etwas abseits von der Gruppe und knipste die Taschenlampe dann aus. Da scherzten die anwesenden Nepali, man solle ihr doch einmal mit der Taschenlampe leuchten.

An einem anderen Tag kamen auch meine Eltern vorbei. Sie waren auf dem Weg zum Wochenmarkt in Dorphu. An jenem Tag hatten die Nepali den Auftrag, alle vorübergehenden Leute zu befragen, woher sie kämen und wohin sie gingen. Marlis sagte mir, ich solle jemandem, den ich gerne hätte, zum Abschied etwas schenken. Aber ich antwotete, ich hätte niemanden gerne. Ich war es nicht gewohnt, derartige Gefühle zu zeigen. So etwas tat ein Sherpa-Mädchen nicht. Man mußte immer stark sein und durfte keine Angst haben und nie müde werden. Ich war damals sehr stolz, daß ich nichts besaß, keinen Ring, keine Halskette, einfach nichts.

Von Phaphlu gingen wir weiter nach Junbesi. Wir, das waren nun nur noch Marlis, Sushil und ich sowie einige uns begleitende Sherpa. Zu unseren Trägern gehörte auch ein junger Tibeter, der darüber jammerte, daß ihm das Erlernen des Nepali sehr schwer gefallen sei. Er erzählte schreckliche Dinge, die sich in seiner tibetischen Heimat ereignet hatten. Viele Tibeter hätten Selbstmord begangen, weil sie den Frevel, zu dem sie von den chinesischen Besatzern gezwungen wurden, nicht mehr ertragen konnten. Beispielsweise mußten die Tibeter heilige chorten (stupa) zertrümmern und die Steine dann beim Straßenbau verwenden.

In Junbesi ließen wir uns in einer kleinen Scheune nieder. Die Familie, der das Gebäude gehörte, hatte als Magd ein Kami-Mädchen in Diensten. Das war äußerst ungewöhnlich, da die Sherpa lieber Tamang als Dienstpersonal beschäftigten, weil Kami normalerweise ja die Sherpa-Häuser nicht betreten durften. Das Kami-Mädchen war sehr schön und von schlanker Gestalt. Tagsüber sind wir zu den Häusern in Junbesi gegangen, um uns mit den Leuten zu unterhalten. Aber um diese Tageszeit waren natürlich nur die Kinder anwesend, die uns dann nur sagen konnten, ihre Eltern seien arbeiten. Abends besuchten wir einen Lehrer. Er war ein ehemaliger Gurkha-Söldner, der auch die Sherpa-Sprache beherrschte und mit den Kindern in ihrer Muttersprache scherzte. An einem Tag gingen wir zu einem Laienlama, der oberhalb von Junbesi in einem großen Haus wohnte. Er hatte einen ganz unverschämten Sohn, der sich ständig von hinten anschlich und mich belästigte.

Nach einigen Tagen machten wir uns dann auf den Weg nach Kathmandu. Es gab damals nicht einmal die Straße nach Lhasa, so daß wir den ganzen Weg zu Fuß zurücklegten. In Jiri trafen wir einen nepalischen Arzt und seine hochschwangere Frau. Sie hatten in ihrem Haus ein Becken, bei dem Wasser aus einem Rohr herauskam. Davon war ich ganz fasziniert. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die Arztfrau machte mit einem Dienstmädchen das Haus sauber. Unsere Sherpa machten sich darüber lustig, was der Arzt wohl mit seiner Frau gemacht hätte.

An einem Abend traf ich ein schluchzende Frau, die am Ufer des durch die Monsunregenfälle zu einem reißenden Strom angeschwollenen Flusses verzweifelt nach ihrem Kind rief. Das Kind war in die Wassermassen gestürzt und natürlich längst weggespült worden. Aber die Frau wollte das ganz einfach nicht wahrhaben.

Unterwegs hatte ich ausreichend Gelegenheit, der Unterhaltung unserer Träger zuzuhören. Außer dem bereits erwähnten Tibeter gehörten dazu A Tutu, ein Schamane aus Khumjung, zwei Mädchen aus Pikyongma und ein weiterer junger Sherpa. Letzterer war bereits verheiratet und erzählte ständig die intimsten Dinge aus seinem Eheleben. Auch eines der Mädchen war verheiratet. Sie jammerte darüber, daß sie keine Kinder bekäme. Das andere Mädchen berichtete, daß es noch im selben Jahr heiraten werden. Sie sei bereits fest versprochen worden.

Irgendwann kamen wir zu einer Stelle, wo die Chinesen damals gerade mit dem Bau der Straße von Kathmandu nach Lhasa beschäftigt waren. Dort sah ich zum ersten Mal einen Bagger, den ich äußerst beeindruckend fand. Dann sah ich erstmals ein Auto. Bald darauf bestiegen wir alle ein Taxi und legten damit die letzten Kilometer zur Stadt zurück. Ich fragte den Taxifahrer, warum er denn diese Spiegel am Auto hätte. Er sagte nur, die seien dazu da, damit die Autos nicht zusammenstießen; aber das habe ich nicht so ganz verstanden. Damals gab es ja selbst in Kathmandu nur ganz wenige Autos.

Beeindruckend war für mich alles, was ich da in Kathmandu zu sehen bekam. Schon die Tatsache, daß die ganze Landschaft so schön flach war, fand ich bemerkenswert. In Kathmandu kamen wir im Haus von Boris Lissanevitch unter, einem früheren russischen Ballettänzer, der 1951 nach Nepal gekommen war. Die Bettenverteilung war etwas merkwürdig; ich schlief im großen Doppelbett und Marlis auf einem Klappbett. Am ersten Tag sagte man mir, bei Boris könne man auch drinnen im Haus zur Toilette gehen. Das war mir dann aber doch zu unanständig, und so bin ich weiterhin nach draußen in den Park gegangen. Meine Freunde drängten mich auch, ein Bad zu nehmen. Dazu mußte ein nepalischer Bediensteter ganz viel Wasser mit Eimern heranschaffen. Später fragte er dann Sushil, ob das Wasser heiß genug gewesen wäre. Als er hörte, daß ich gebadet hätte, brachte er laut sein Unverständnis zum Ausdruck, warum er denn für eine wie mich so viel Wasser hätte schleppen müssen.

Boris hatte zwei großgewachsene Tamang-Jungen, Jetha und Mainla, als Bedienstete. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem, täglich das Essen für Boris aus seinem Hotel zu holen. Nachmittags kam stets eine gutgekleidete etwa dreißigjährige Frau zu ihm. Jetha und Mainla meinten, sie hätte nichts zu tun und brauche nur dort herumzusitzen. Irgendwann bin ich zu ihnen ins Zimmer gegangen. Die beiden saßen da und sagten nichts. Die Frau hatte auch kein Interesse, sich mit mir zu unterhalten und blätterte nur in Zeitungen. Da bin ich einfach wieder gegangen. Einmal kam eine Herde von Kühen in den Park und fraß die ganzen Blumen von Boris Anlage weg. Ich habe das beobachtet und interessiert zugeschaut. Später hat sich Boris sehr aufgeregt, als er die Bescherung sah. Spaß hatte ich auch an der Schar Gänse, die ein Junge jeden Abend durch den Park trieb. Neben unserem Haus war eine kleine Hütte, in der eine Familie mit zwei Töchtern wohnte. Mit den Töchtern habe ich häufig gespielt. Wir taten so, als wären wir Affen und würden bei Boris irgendetwas stehlen, was wir in Wirklichkeit natürlich nicht taten. Die beiden Mädchen schwärmten immer von Calcutta. Dort wären so viele Menschen. Ihr Traum war es, irgendwann einmal dorthin zu gehen. In ihrem Haus lebte auch noch ihre verwitwete Großmutter. Sie ging vormittags im Hotel putzen; nachmittags legte sie sich meist hin, um sich auszuruhen.

An einem Tag fuhren wir nach Budhanilkantha, einem hinduistischen Heiligtum, in dem eine auf einer Schlange ruhende und in einem Teich liegende Vishnu-Statue verehrt wird. Ein junger Brahmane, den ich dort traf, wollte mich zunächst davon abhalten, die Anlage zu betreten. Er begründete das mit meinen Schuhen. Nachdem wir uns eine ganze Zeit lang unterhalten hatten, meinte er, ich könne doch ruhig in das Heiligtum gehen.

Probleme wegen meiner Schuhe gab es auch in Bauddha, als wir Sushils Großvater, den Chiniya Lama, besuchten. Die Frauen dort schimpften mich aus, weil ich einfach in sein Zimmer gegangen war, ohne die Schuhe auszuziehen. So etwas kannte ich von zu Hause nicht. Ich war so stolz, daß ich endlich einmal Turnschuhe besaß, und tat ganz einfach so, als würde ich überhaupt nichts verstehen. Später beim Abendessen sprach mich ein Onkel von Sushil in der Sprache der Sherpa von Helambu an. Ich verstand aber nicht sehr viel und dachte, er spreche vielleicht Tibetisch. Daher habe ich stumm weitergegessen. Sushils Onkel meinte dann auf Nepali, ich sei schon gestorben. Offensichtlich war er sich des großen Unterschieds der Dialekte nicht bewußt und hielt mein Verhalten für arrogant. Was mir im Chiniya Lama-Haus besonders auffiel, war der extreme Respekt der Kinder gegenüber den Eltern. Den hatten wir zu Hause zwar auch besessen, aber daß wir uns ständig vor den Eltern verneigten, das gab es doch nicht.

Abschied von Nepal

Schließlich kam der Tag, an dem wir zum Singha Darbar fuhren und meinen Reisepaß abholten. Die Gänge in dem ehemaligen Rana-Palast erschienen mir wie ein Labyrinth. Ein freundlicher kleiner Mann überreichte mir meinen Paß, den ich mit einem Fingerabdruck unterzeichnete. Offensichtlich waren noch nicht viele Pässe ausgestellt worden, denn meiner hatte die Nummer 3401.

Dann hieß es Abschied nehmen von Nepal. Ich kann mich noch erinnern, daß wir Boris ein dickes Bündel Geld für unseren Aufenthalt bei ihm überreichten. Am Flughafen flossen einige Tränen. Freunde meinten, ich solle es gut machen. Ich wußte gar nicht was auf mich zukam und habe das erst im Nachhinein verstanden. Während des Fluges nach Bombay durfte ich auch nach vorne in die Pilotenkanzel gehen. Dorji, der kleine Hund, den wir mit nach Europa nehmen wollten, weigerte sich hartnäckig, eine Kiste zu besteigen. Daher durfte er während des Fluges nach Indien bei mir auf dem Schoß sitzen. Später beim Flug nach Europa sollte das jedoch nicht mehr möglich sein.

Auf dem Flug nach Bombay lernten wir einen jungen Inder kennen, der fließend Nepali sprach. Er erzählte mir, daß tags zuvor ein Flugzeug abgestürzt sei. Ich fragte ihn, wie das denn passiert sei. Der Inder meinte, der Pilot habe sich die Stiefel ausgezogen und dabei die Kontrolle über das Flugzeug verloren. Da meinte ich, wenn es nichts Schlimmeres wäre, dann sei das ja nicht so tragisch. Ich war mir überhaupt nicht bewußt, was ein Flugzeugabsturz bedeutete.

Mit dem Flugzeug reisten auch drei europäische Nonnen. Sie waren ganz weiß gekleidet und hatten Büschel von Stoffblumen bei sich. Ich konnte es einfach nicht lassen, diese Blumenbüschel zu untersuchen, obwohl die Frauen mir auf Nepali sagten, ich solle die Finger davon lassen. In Bombay fuhren wir mit einem Bus in die Stadt. Beim Aussteigen ließen wir eine Tasche im Bus liegen, worüber Marlis schon sehr betrübt war. Später brachte ein junger Mann jedoch die Tasche vorbei, so daß sich unsere Stimmung schlagartig wieder besserte.

Der junge Mann, den wir im Flugzeug kennengelernt hatten, nahm uns mit zu seinem Haus in Bombay. So mußten wir nicht in ein Hotel gehen. In seinem äußerst sauberen Bungalow waren nur noch seine Mutter, eine sehr freundliche Dame, und eine Bedienstete. Am Abend sind wir zum Meer gefahren. Der Mond schien, und die Wellen rollten an den Strand. Es war richtig romantisch. Da fragten mich Marlis und unser indischer Freund, ob ich mit ins Wasser gehen wolle. Das verstand ich überhaupt nicht. Ich dachte, die beiden wollten mich ersäufen, und lehnte daher dankend ab.

Dann ging es weiter nach Europa. Der Abflug war abends im Dunkeln. Marlis sagte, das Flugzeug sei da, aber ich konnte in der Dunkelheit nur einen hellen Lichtstrahl erkennen. Jetzt hieß es auch, uns von Dorji zu trennen; er mußte bis Amsterdam in einem Tranportbehälter weiterreisen. Während des Fluges hatte ich einen Fensterplatz, so daß ich die Aussicht genießen konnte. Irgendwann gab es Essen. Neben mir saß ein älterer Herr, der ständig einnickte. So bot ich ihm mein Kopfkissen an. Als Gegenleistung brachte er mir dafür bei, wie man mit Messer und Gabel ißt. Man wollte mir doch tatsächlich Gras zu essen geben, was ich natürlich liegen ließ. Später lernte ich, daß man dieses Gericht in Europa als Salat bezeichnet.

Beim Landeanflug auf Amsterdam konnte ich viele Schiffe erkennen. Im Flughafengebäude sah ich unzählige Frauen, die in ein komisches Gerät sprachen, an dem sich eine schwarze Schnur befand. Ich dachte mir, die Frauen müßten doch sehr schlau sein. In einer anderen Halle gab es Getränke. Ein Kellner stellte ein Glas mit einem gelben Getränk vor mich, das ich sofort runterkippte. Marlis suchte unterdessen in ihrer Tasche vergeblich nach ihrem Geld. Der Kellner nahm das jedoch nicht tragisch und schenkte uns die Getränke. Später holten wir Dorji beim Zoll ab. Der kleine Hund war so froh und glücklich, endlich aus seinem Gefängnis befreit zu werden und uns wiederzusehen, daß er umgehend ein größeres Geschäft vor dem Tisch des holländischen Beamten erledigte. Dieser nahm es jedoch mit Humor.

In Amsterdam mußten wir noch einmal in einem Hotel übernachten. In unserem Zimmer benutzte Marlis auch so ein Gerät, das ich schon im Flughafen bei den Frauen gesehen hatte. Offensichtlich bestellte sie auf diese Weise etwas zu essen für uns. Als Marlis dann ins Bad ging, konnte ich mir nicht verkneifen, auch einmal das schwarze Gerät auszuprobieren. Ich hob den Hebel mit der Schnur hoch. Da meldete sich eine Stimme, die "Hallo!" sagte. Ich habe auch "Hallo!" gesagt und ganz schnell wieder aufgelegt.

Dann kam der Chef, den ich schon in Nepal kennengelernt hatte, und holte uns ab. Er hatte seine beiden schönen blonden Töchter mitgebracht. Unterhalten konnten wir uns noch nicht. Da ich ja nichts besaß, schenkte ich den beiden meine Paßphotos. Vielleicht waren sie auch etwas enttäuscht. Sie hatten wohl ein kleineres Kind erwartet. Später in Deutschland lernte ich dann auch die Frau und die Mutter des Chefs kennen. Leider mußte ich mich jedoch von Marlis trennen, was mir sehr schwer fiel.

So begann mein Einzug in eine für mich völlig fremde Welt. Ich brauchte sehr lange, bis ich mich einigermaßen daran gewöhnt hatte. So lernte ich erstmals Fernsehen kennen. Dort wurden teilweise sehr intime Dinge gezeigt. Das veranlaßte mich zu der Annahme, die Wände seien in Europa durchsichtig. Ich glaubte, die Leute könnten genauso auch sehen, was ich in meinem Zimmer tat. Daher habe ich mich in den ersten Tagen immer im Schrank umgezogen. Anfangs mußte ich mich überwiegend mit Zeichensprache verständigen. Mit der Zeit lernte ich jedoch auch Deutsch und konnte auch die Schule besuchen. Das Erlernen der deutschen Sprache ist mit jedoch sehr schwer gefallen. Viele Lautkombinationen konnte ich kaum aussprechen. Alles hörte sich für mich gleich an. So brauchte ich beispielseise drei Monate, bis ich zur Großmutter des Hauses "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag" sagen konnte.


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