Nachdem ich sieben Jahre in Deutschland gelebt hatte, kehrte ich als eine Art verlorene
Tochter erstmals wieder nach Hause zurück. Wir das waren außer mir noch drei
Deutsche, ein Ehepaar und ein weiterer Herr aus der Nähe meines deutschen Wohnortes
waren um 14 Uhr in Frankfurt abgeflogen. Unser Flug sollte uns über Kairo und
Karatschi nach Delhi führen; eine Direktverbindung zwischen Deutschland und Nepal gab es
damals noch nicht. Eine Landung in Delhi war jedoch wegen starken Nebels nicht möglich.
Nachdem wir eine Zeitlang über Delhi gekreist waren und sich die Sichtverhältnisse noch
immer nicht wesentlich gebessert hatten, sah sich der Pilot genötigt, Bombay anzufliegen.
Um 10 Uhr morgens stiegen wir dort schließlich aus dem Flugzeug. Wir waren sehr
neugierig, welcher Anblick sich uns in der Stadt bieten würde, wie das Leben dort war und
die Menschen ....
Zwar hatte ich Bombay bereits vor sieben Jahren einmal kennengelernt, doch wirkte die
Stadt erst jetzt so richtig auf mich. Unser erster Weg war eine Fahrt mit dem Taxi kreuz
und quer durch das Armenviertel der Millionenstadt. Überall saßen Bettler am
Straßenrand. Anfangs brannte ich darauf, diese armen Menschen zu beobachten, ihre
gierigen Augen, die hungrigen Gesichter. Es handelte sich um Menschen der untersten Kasten
bzw. um Kastenlose. Sie wohnten in armseligen kleinen Hütten aus Bambus und Stroh am
Straßenrand. Diese Hütten besaßen weder Fenster noch Türen; es handelte sich lediglich
um vier Wände mit einem Dach oben darauf. In jeder der kleinen Hütten befanden sich
mindestens fünf bis sechs Kinder mit ihrer Mutter. Waschen schien diesen Leuten
vollkommen fremd zu sein. Es war sehr heiß. Die Fliegen krabbelten überall auf dem Essen
umher und den Leuten über das Gesicht.
Allenthalben rannten die Bettler in Scharen hinter uns her. Eine Bettlerin faßte mich
am Arm und wollte unbedingt eine Rupie von mir haben. Obgleich ich mich heftig gewehrt
habe, hat sie mich nicht losgelassen. Einer meiner deutschen Begleiter hat sie dann
schließlich davongescheucht. Unterdessen hatte uns heimlich, ohne daß wir es bemerkt
hatten, ein kleiner Junge Schuhcreme auf unsere Schuhe geschmiert. Nun machte er uns
darauf aufmerksam, daß die Schuhe schmutzig wären. Es blieb uns nichts anderes übrig
als sie uns von dem Jungen putzen zu lassen.
Vielfältig waren die Ansichten der indischen Großstadt hier Armenviertel, dort
schöne neue Häuser. Überall herrschte ein unwahrscheinliches Durcheinander. Immer
wieder stießen wir auf Basare. Dort wurden herrliche bunte Gemälde angeboten,
verschiedenste Handarbeiten, Töpfereien, Gold- und Silberschmuck, Diamanten, viele auch
für mich neue, fremde, sehenswerte Sachen. Am schönsten aber war die warme Sonne, die
ich im meist kühlen Deutschland doch oft vermißt hatte. Eigentlich war es ja schon mehr
Hitze als Wärme. Beeindruckt war ich auch von den unzähligen Palmenbäumen. Hunde,
Kühe, Autos, kleine Kinder, alte Leute, Bettler, reiche Touristen, gut gekleidete Leute,
gebildete buddhistische Mönche, Hindus, Jains, Christen, Hippies, alle waren in Bewegung.
Alles rannte hin und her. Die ganze Stadt schien sich in einem unaufhörlichen Kreislauf
der Bewegung zu befinden. Von allen Seiten drang Musik an unser Ohr. Bei all diesem
hektischen, lebhaften Treiben war der Gesichtsausdruck der Menschen keineswegs lustig und
fröhlich, eher ernst.
Abends konnten wir endlich unseren Flug nach Delhi fortsetzen. In der indischen
Hauptstadt fand gerade irgendeine größere politische Veranstaltung statt. Daher hatten
wir sehr große Schwierigkeiten, Hotelzimmer zu finden. Das verwunderte uns etwas bei
dieser Millionenstadt. Wir blieben zwei Tage in Delhi und sahen uns die Stadt an. Der
Eindruck war doch wieder anders als der von Bombay. Belustigt habe ich den Affen- und
Schlangenvorführungen zugesehen. Am Straßenrand stand ein Mann mit Trommel und Flöte
und ließ seine Schlangen tanzen. Zunächst lagen die Schlangen zusammengerollt in einem
Korb. Wenn der Mann aber dann seine Flöte erklingen ließ, richteten sie sich auf und
bewegten langsam den Kopf hin und her. Ständig stieß dabei ihre gespaltene Zunge aus dem
Maul hervor. Oft ließ der Mann drei bis vier Schlangen gleichzeitig tanzen. Vor einem
solchen Schlangentanz murmelte der Schlangenbeschwörer ein paar magische Formeln oder
Worte zu den Schlangen. Andere Schausteller wiederum ließen kleine Äffchen tanzen, die
sie an einer langen Leine führten. Jeder Schausteller hatte immer nur einen Affen. Dieser
mußte mit seinen Kunststückchen, die er nicht immer willig ausführte, für seinen Herrn
das Brot verdienen.
Überall sah man Menschen mit schönen, schlanken indischen Zügen. Mädchen in
Gewändern aus ganz feiner orange oder grüner Seide spazierten umher. Auffallend waren
immer wieder die Sikh mit ihren Turbanen; einige hatten sich auch ein paar Federn oben
darauf gesteckt. Von überall her erklang typisch indische Musik, vor allem in Hindi, was
mir sehr gut gefiel. In sämtlichen Geschäften liefen Radios, wobei offensichtlich eines
das andere zu übertönen versuchte. Viele Schwarzhändler traten an uns heran und
fragten, ob wir vielleicht Geld wechseln wollten. Sie ließen sich nicht so leicht
abweisen. Auch wenn man ihnen energisch klar gemacht hatte, daß man kein Geld wechseln
wollte, und dann in irgendein Geschäft ging, um etwas anzusehen oder eine Kleinigkeit zu
kaufen, so standen sie anschließend, wenn man das Geschäft verließ, immer noch vor der
Tür und fragten wieder, ob man nun vielleicht Geld wechseln wollte. Ständig wurde man so
angesprochen. Ähnlich verhielt es sich, wenn man irgendwohin fahren wollte. Wenn eine
Reihe Taxis dastand, so stritten sich die Fahrer, wer den Gast befördern durfte. Jeder
wollte sich gerne ein paar Rupien verdienen. Meist siegte der Stärkere oder der
Dreistere.
Bei dieser Gelegenheit erinnere ich mich auch an einen Vorfall, der sich bei unserer
Ankunft auf dem Flughafen in Delhi ereignete. Da stand wie das ja auf indischen
Flughäfen und auch in Nepal so üblich ist eine ganze Reihe von mehr oder weniger
kleinen Jungen und bot den ankommenden Fluggästen an, ihnen die Koffer zu tragen. Meist
scheuchten auch hier die Großen die Kleineren weg. Wir sagten uns daher: "Laßt uns
doch den Kleinen auch einmal etwas tragen lassen; dann kann er sich auch ein paar Rupien
verdienen. Vielleicht ist er noch nie dazu gekommen." Aber der kleine Junge konnte
den schweren Koffer dann gar nicht tragen, weil er viel zu schwach dazu war.
Überall drängten die Massen. Man sah nur wenige lachende Gesichter. Die meisten waren
ganz schweigsam und ernst. Sie wirkten dadurch etwas kühl. Aber vielleicht wurde dieser
Eindruck in mir auch nur durch die Masse der Leute hervorgerufen. Jedenfalls wirkten alle
irgendwie etwas zurückhaltend. Es fehlte die innere Fröhlichkeit; die Menschen waren
gedrückt. Das hatte ich aus meiner Heimat Nepal ganz anders in Erinnerung.
Endlich wieder in Nepal
Dann kam der erste November. Ich glaube, es war ein Mittwoch auch mein Name,
Lhakpa, bedeutet ja übersetzt "Mittwoch". Das war für mich einer der
schönsten Tage meines Lebens. Nur der Tag, an dem ich meinen Mann kennenlernte, war noch
schöner. Es war einfach wunderbar. An jenem Tag flogen wir nämlich aus der indischen
Tiefebene nach Kathmandu, in mein Heimatland Nepal. Anfangs war alles noch so flach wie in
Indien, doch dann wurde die Landschaft allmählich gebirgiger. Es herrschte ein herrliches
Wetter, wie gemalt, wie im Paradies. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Und unter uns
wurden die Berge immer höher und höher. Nun leuchtete schon die Gebirgskette des Hohen
Himalaya zum Greifen nahe. Klar und bizarr hob sie sich mit ihren Fels- und
Gletschermassiven vom tiefen Blau des Himmels ab. Sie wirkte so nah, als könne man sie
mit den Händen greifen. Wie reines Silber glänzten die Schneeberge. Unter den
ungebrochen einwirkenden Sonnenstrahlen glitzerten sie wie Kristall. Das Herz schlug
automatisch schneller in meiner Brust. Das Flugzeug machte noch einen kleinen Rundflug
über die herrliche Bergwelt des Himalya, eine Art Mountain Flight, der uns einen
erhebenden Eindruck von der majestätischen Bergwelt und der natürlichen Schönheit
Nepals vermittelte. Herrlich, wie die hohen Berge unter uns dahinglitten! Natürlich
verstärkte die gute Wetterlage noch diesen Eindruck. Aber für mich war es wohl auch die
unbeschreibliche Euphorie, wieder zu Hause zu sein. Doch erst als wir schließlich in
Kathmandu landeten, dachte ich bei mir: Jetzt bist du ja in der Heimat! Aber noch immer
erschien mir das Ganze wie ein Traum. Ich konnte noch nicht so recht begreifen, daß das
alles Wirklichkeit war, daß ich jetzt zum ersten Mal wieder heimatlichen Boden unter den
Füßen hatte, zum ersten Mal seit über sieben Jahren!
Der erste Eindruck von der Bevölkerung Kathmandus war wieder Freundlichkeit; es waren
alles sehr fröhliche und freundliche Gesichter, die uns hier am Flughafen ansahen. Unser
erster Weg durch die Stadt war der zum Hotel. Wir hatten uns zwar schon von Europa aus
darum bemüht, jedoch hätte es uns durchaus auch passieren können, daß sämtliche
Hotelbetten belegt waren. Doch wir hatten Glück, es waren genügend
Unterkunftsmöglichkeiten vorhanden.
Dann machten wir unseren ersten Spaziergang durch diese "Holzstadt", wie der
Name der Stadt übersetzt heißt. Warum man keinen treffenderen Namen hätte wählen
können, darauf werde ich noch später zurückkommen. Typisch für Nepal stießen wir in
der Stadt auf ein Gemisch der verschiedensten Völker und Rassen. So hielten sich damals
auch sehr viele Tibeter dort auf. Es handelte sich dabei in der Hauptsache um Flüchtlinge
aus dem von China besetzten und unterdrückten "Schneeland". Die tibetischen
Flüchtlinge hatten hier im Nachbarland Nepal eine zweite Heimat gefunden und sich in
einer ganzen Reihe von Tibetersiedlungen niedergelassen.
In der Stadt blühte der Andenkenmarkt. Man konnte alles kaufen, Götterfiguren und
Statuen in allen Größen, vajra, khukuri, Schmuck, Textilien, vieles
"very old from Tibet". Es gab aber auch Obst und Gemüse in Massen zu kaufen,
doch war das alles für mich leider sehr, sehr teuer.
Die Erntezeit hatte begonnen. Überall auf den Straßen wurde schon Reis gedroschen.
Alles, was Arme und Beine hatte, mußte mit anfassen: Männer, Frauen und Kinder.
Dazwischen und darüber liefen die kleinen Kinder und die Hunde. Überall saßen die Leute
bei der Arbeit auf dem Boden. Hier und da sah man einige, die sich gegenseitig lausten.
Anderswo wiederum saßen junge Mütter und stillten ihre Säuglinge. Hier putzten kleine
Kinder ihre Nase am Hemdärmel ab (die Kinder waren übrigens meist sehr fröhlich und
immer zu allem Schabernack aufgelegt). Dort wiederum saßen Frauen mit kleinen Kindern auf
dem Arm. Hier ging eine Frau mit einem Wasserkrug auf dem Kopf. Und dazwischen sah man
immer wieder Verkaufsstände aller Art mit Kunstwerken, Lebensmitteln, herrlichen
Schnitzereien, Obst und überall wieder schreiende und lärmende Kinder. Ich
wechselte ein paar Worte mit ihnen. Oft verfiel ich dabei in die deutsche Sprache. Wenn
ich dann in ihre lachenden aber unverständigen Augen blickte, fiel mir wieder ein, daß
sie mich ja nicht verstehen konnten. Dann redete ich wieder ein paar Worte in Englisch,
aber Nepali zu sprechen, daß kam mir zunächst gar nicht in den Sinn. Sieben Jahre waren
immerhin eine sehr lange Zeit, und ich hatte in dieser Zeit kaum ein Wort Nepali
gesprochen, allenfalls bei gelegentlichen Kontakten zur nepalischen Botschaft in Bonn.
Hinzu kam noch, daß es sich dabei ja nicht um meine Muttersprache handelte, sondern
einfach um die Landessprache, die ich früher noch neben der Muttersprache zu sprechen
gewohnt war. In meiner lokalen Heimat, in Shorong, Pharak und Khumbu, dem
Hauptsiedlungsgebiet der Sherpa, war die Sherpa-Sprache die tägliche Umgangssprache
gewesen. Es handelt sich dabei um einen tibetischen Dialekt, während Nepali eine
indisch-stämmige, d.h. also eine indoeuropäische Sprache ist, die sich aus dem Sanskrit
entwickelt hat und die indische Devanagari-Schrift verwendet. Ursprünglich wurde von den
Sherpa nur die Sherpa-Sprache gesprochen; noch der Generation meiner Eltern war das Nepali
fast vollkommen fremd. In meiner Kindheit wurde das Gebiet von Solu-Khumbu so weit
administrativ-staatlich erschlossen, daß auch die nepalische Landessprache den Sherpa
nicht länger verschlossen blieb. Man lernte es dann später auch auf den allerdings noch
sehr, sehr verstreut liegenden Schulen die ersten Schulen im Sherpa-Gebiet wurden
in den sechziger Jahren auf Initiative von Sir Edmund Hillary, dem großen Freund und
Gönner der Sherpa, errichtet , falls man eine solche überhaupt besuchte. Dennoch
bürgerte es sich allmählich allgemein ein, daß man neben der Sherpa-Sprache auch Nepali
sprechen, allerdings meist nicht schreiben konnte. Wenn wir Kinder damals unsere Eltern
ärgern wollten, dann sprachen wir ganz einfach Nepali, und sie verstanden kein Wort.
Aber zurück zu Kathmandu. Die Geschäfte waren nicht das Interessanteste in der
nepalischen Hauptstadt. Da hatten natürlich die unzähligen Tempel den Vorrang, einer
neben bzw. hinter dem anderen. Man hatte den Eindruck, als gäbe es mehr Tempel als
Häuser. Und dann hatte ich noch eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Es lebte
schließlich eine Reihe von alten Bekannten hier in Kathmandu, und die mußte ich
natürlich unbedingt besuchen. Mein erster Besuch galt der Familie des auch über die
Landesgrenzen hinaus bekannten Chiniya Lama. Als ich das Haus betrat, stand dort ein
junger Mann mit Sonnenbrille und langen Haaren, die von einem Stirnband gehalten wurden,
ein richtiger Hippityp. Kannte ich ihn etwa? Sollte das vielleicht mein guter alter Freund
Sushil sein, der Enkel des Chiniya Lama? Ich sprach ihn an, und siehe da, er war es. Ich
stellte mich vor; auch er hatte mich nicht sofort wiedererkannt. Ich ließ mich auf dem
Fußboden nieder und erhielt eine Tasse Tee zu trinken.
Überall um mich herum herrschte ein ungeheurer Wohlstand. Der Chiniya Lama war ein
sehr reicher, aber auch sehr angesehener Mann. Er war das religiöse Oberhaupt der
buddhistischen Nyingmapa-Gemeinde von Bauddha oder Bodhnath, einem damals noch kleinen
Dorf östlich von Kathmandu, das lediglich aus einem Häuserring rund um den großen
Chorten und ein paar Häusern entlang der Straße bestand. Ich nutzte die günstige
Gelegenheit, mir das Dorf näher anzusehen. Anziehungspunkt war natürlich der große chorten
(stupa)mit seinen unvergeßlichen ausdrucksvollen Augenpaaren, die in alle vier
Himmelsrichtungen blickten. Mahnend wirkte der scharfe und klare Blick der Augen Buddhas.
Der chorten ist zumindest schon seit dem 5. Jh. n. Chr. als wichtiges Pilgerziel
bekannt. Seine Kuppel erhebt sich über einem fünffachen Unterbau, der wiederum von einer
hohen Steinmauer umgeben ist, in die rundum hölzerne Gebetsmühlen eingelassen sind. Die
Spitze des chorten erreicht etwa eine Höhe von 40 m. Der ganze chorten ist
in der Form eines Mandala angelegt, d.h. in der symbolischen Darstellung des Weltbildes.
Dieses alte buddhistische Pilgerziel war nun auch mein Ziel. Ich kletterte die Stufen bis
zum Fuße des Kuppelbaues empor, umschritt den chorten und ließ mich dort oben
nieder. Man hatte einen herrlichen Ausblick über die ganze Umgebung bis hin nach
Kathmandu. In der Ferne erkannte ich wunderbar angelegte Reisterrassen. Wie man von hier
oben aus sehr gut sehen konnte, hatten die meisten Häuser Strohdächer; jedoch waren auch
einige Häuser mit Ziegeln abgedeckt. Ich genoß den Anblick von dort oben sehr lange.
Wieder zurück in meinem Hotelzimmer in Kathmandu beobachtete ich zwischen den
Häuserdächern hindurch das geschäftige Treiben der Menschen. Was für ein Unterschied
zur ländlichen Idylle von Bauddha. Ständig drang das Hupen der Taxis andere Autos
gab es damals kaum an mein Ohr. Und dann die vielen Tiere, die auf der Straße
herumrannten! Das kam mir ja fast noch schlimmer vor als in Indien.
Zur indischen und zur chinesischen Grenze
Wir sind von Kathmandu aus mit dem Taxi ein Stück durch das Land gefahren, so auch in
Richtung auf die indische Grenze, über die einzige Verbindungsstraße zwischen Indien und
Kathmandu. Das war eine herrliche Fahrt. Diese Gegend meines Heimatlandes war mir damals
noch unbekannt gewesen. Es gab keine Fabriken, die die Landschaft hätten verunstalten
können, nur Felder, eines neben dem anderen. Und überall waren die Leute bei der
Reisernte. Zwischen den Feldern sah man von Zeit zu Zeit Bananenstauden. Irgendwann haben
wir dann in einem kleinen Gasthaus an einem Flußufer am Wegesrand Rast gemacht. Dort
haben wir uns eine Kleinigkeit zu essen gekauft. Es liefen mehrere kleine Jungen herum.
Der Kleinste war der Kellner; er hat auch nachher bei uns kassiert. Die Wände des
Gasthauses waren sehr schmutzig. Überall krabbelten Fliegen auf den Speisen und
Lebensmitteln herum. Dicht am Haus floß der Fluß vorbei. Latrinen und Kanäle gab es
natürlich nicht. Deshalb hatten die Leute ihre Bedürfnisse überall am Flußufer entlang
erledigt. Man kann sich vorstellen, daß sich in der Umgebung ein nicht gerade angenehmer
Geruch verbreitete. Andererseits gab es in solchen Gasthöfen alles zu kaufen, was Nepal
an Eßbarem zu bieten hatte, auch Obst und chang, und natürlich auch
selbstgebrannten Schnaps, arak, ein unwahrscheinlich scharfes Getränk. Es gab in
der Nähe des Hauses auch eine Brücke. Diese war aber im Gegensatz zu den Brücken, die
man sonst so im Lande antraf, ziemlich stabil; vielleicht waren irgendwelche Europäer
oder Amerikaner an ihrer Planung und Konstruktion beteiligt gewesen. Typisch für die
nepalische Berglandschaft ist ansonsten eine Art Hängebrückenkonstruktion, manchmal in
Form von Kettenbrücken, wobei der aus schmalen Brettern bestehende Laufsteg, durch kurze
Seile verbunden, an zwei Ketten hing, die quer über den Fluß gespannt waren. Man mußte
schon schwindelfrei sein, um solche Brücken begehen zu können. Für Tiere, selbst für
Hunde, waren sie unbrauchbar.
Auf der Rückfahrt fuhren wir dicht am Rande eines Steilhanges am Fluß entlang. Man
glaubte oft, jeden Augenblick hinab in die reißenden Fluten zu stürzen. Nur von Zeit zu
Zeit sahen wir ein Haus am Wegesrand stehen. In der Hauptsache handelte es sich dabei um
Bauernhäuser. Ansonsten sah man nur terrassenförmig angelegte Felder, Felder über
Felder braune Erde, saftige Weiden, grünende Bäume. Unterwegs begegneten uns ein
paar Tamang-Frauen. Durch die Nasen trugen sie goldene oder zumindest vergoldete Ringe.
Dann wieder trafen wir ein paar hochkastige Hindus, erkennbar durch ihre roten Zeichen auf
der Stirn. Die Haare hatten sie mit Ölkreide glattgekämmt, regelrecht plattgedrückt.
Die Frauen trugen Armreifen, die vom Ellenbogen bis zum Handgelenk reichten. Wenn sie die
Arme bewegten, dann klang das wie tausend Glöckchen. Es machte jedenfalls einen
ziemlichen Krach.
Eine andere Fahrt führte uns von Kathmandu aus nach Norden bis zur chinesischen
Grenze. Auch hier ging die Fahrt immer am Fluß entlang. Die Flußtäler boten in diesem
zerklüfteten Gebirgsland nahezu die einzige Möglichkeit für den Bau von Straßen.
Natürlich bestand hier immer die Gefahr, daß die Straße durch Überschwemmungen oder
Bergrutsche von Zeit zu Zeit einmal beschädigt oder zumindest unbefahrbar wurde. Dann
machten ein paar Leute mit ihren primitiven Werkzeugen, ein paar Hacken und Schaufeln, die
Straße wieder glatt. Aber Stabilität erreichte sie auf diese Weise natürlich nicht, und
man konnte fast mit Sicherheit annehmen, daß sie beim nächsten starken Regenfall wieder
zerstört werden würde. Die Straße, auf der wir fuhren, war einige Jahre zuvor von den
Chinesen von Lhasa, der Hauptstadt des von ihnen besetzten Tibet, bis nach Kathmandu
gebaut worden. Die Fahrt nach Norden war noch weitaus faszinierender als jene in Richtung
auf die indische Grenze. Jedenfalls gefiel sie mir noch besser. Aber vielleicht war das
auch das innerliche Gefühl, meiner Heimat nun noch näher zu kommen. Die Gegend wurde mir
wenn auch vielleicht nur unbewußt vertrauter. In meinem Innern wurden
wieder die lebhaftesten Erinnerungen an meine Jugendzeit wach, die ich in diesem
Hochgebirgsraum verbracht hatte. Ringsum gab es nun keine Felder mehr, wie es noch in
Richtung Süden der Fall gewesen war. Überall umgab uns düsterer Dschungel, dazwischen
wieder schroffe Felsen. Dann erreichten wir endlich die Grenze. Hier auf unserer Seite
standen nepalische Soldaten und auf der anderen Seite, nur ein paar Meter entfernt,
chinesische. Fotografieren war strengstens verboten, doch gelang es meinen deutschen
Begleitern, dieses Verbot mit ein paar Tricks zu umgehen. Wir sahen, daß immer noch
Händler die Grenze überquerten. Sie gingen tief gebückt unter den schweren Lasten, die
sie auf ihrem Rücken trugen.
Heimkehr nach sieben Jahren
Und dann sollte endlich der Tag kommen, an dem ich wieder nach Hause fliegen konnte.
Schon zwei Tage zuvor hatte ich keinen Bissen mehr essen können. Ich wußte meine innere
Unruhe kaum noch zu bewältigen. Ich war gerade der Kindheit entwachsen, als ich Eltern
und Heimat wie über Nacht verlassen und mich in ein mir doch vollkommen ungewisses
Schicksal begeben hatte. Nun also sollte ich das alles endlich wiedersehen. Was war wohl
aus den Daheimgebliebenen geworden? Ob die Menschen und die Ansichten wohl noch immer
dieselben waren wie früher? Ob das Leben dort fernab von jeder modernen Technik und
fremden Kultur noch immer in demselben Rhythmus ablief, den es schon seit Jahrhunderten
befolgte? Doch ich mußte meine Ungeduld zügeln, wenn es mir auch noch so schwer fiel.
Dann endlich kam der Tag, an dem wir mit einem kleinen Sportflugzeug in Richtung Himalaya
schwebten. Unser Ziel waren die hohen Berge. Hier am Fuße oder genauer gesagt in
halber Höhe der mächtigsten und höchsten Bergriesen der Erde war meine Heimat,
mein Zuhause. Hier war ich geboren, hier war ich aufgewachsen, hier hatte ich meine
Kindheit und Jugend verbracht. Es war schon ein unwahrscheinlich erhebendes Gefühl, als
wir endlich in Kathmandu starteten. "Dort vorne, irgendwo in der Ferne", dachte
ich bei mir, "dort muß deine Heimat sein." Wie die Wogen des Ozeans folgten
Berg auf Tal und Tal auf Berg. "Dort unten, in einem dieser Täler", dachte ich
mir, "dort müssen deine Verwandten wohnen, dort ist dein Heimatdorf." Das
Flugzeug mußte ziemlich niedrig fliegen; für große Höhen war es nicht konstruiert.
Deshalb flogen wir immer entlang der Täler oder dicht über den Bergkuppen des
nepalischen Mittelgebirgsraumes dahin. Der halbstündige Flug kam mir wie eine Ewigkeit
vor. Überall unter uns breiteten sich riesige Wälder aus. Unter den schräg einfallenden
Sonnenstrahlen wirkte das Ganze wie eine einzige blaugrüne Fläche. Dann endlich landeten
wir in Phaphlu auf der kleinen holprigen Piste, die ansonsten als Viehweide benutzt wurde.
Ich holte ganz tief Luft, als ich aus dem Flugzeug kletterte. Zum ersten Mal atmete ich
wieder die saubere, klare Luft meiner Heimat ein. Das war schon ein erhebendes Gefühl.
Endlich war ich wieder zu Hause! Ich hatte im Verlauf der vergangenen sieben Jahre keinen
Kontakt zu meinen Verwandten gehabt, ich hatte nichts von ihnen gehört oder gesehen. Zwar
hatte ich über Dritte die eine oder andere Information erhalten, aber das waren alles
belanglose Dinge gewesen, und die Nachrichten waren sehr selten und spärlich.
Nun gut, ich ließ halt einfach alles auf mich zukommen. Wir begaben uns als erstes von
der Landepiste zum Dorf Phaphlu. Es war früher Nachmittag. Am Flugfeld hatte uns eine
größere Gruppe von Leuten empfangen. Sie wußten schon, daß ein Flugzeug kommen würde.
Es waren Angehörige unterschiedlicher Völkerschaften darunter: Sherpa, Tamang, Kami,
tibetische Mönche und Nonnen. Als ich meinen Namen nannte, wußten alle sofort, wer ich
war. Ich erkundigte mich als erstes nach dem Befinden meiner Eltern und Geschwister. Man
sagte mir, daß es allen gut ginge, daß noch alle gesund und munter wären.
Dort oben im Himalaya feierte man gerade das tihar-Fest, es war, glaube ich, der
Hundefesttag. Einige Leute zogen von Dorf zu Dorf und bekamen dann etwas Eßbares
geschenkt. Vielleicht war dies einer der Gründe, daß wir im Dorf keine Träger bekommen
konnten. Die Bevölkerung war zwar sehr arm und konnte jeden noch so geringen Geldbetrag
dringend gebrauchen, aber das war nun halt ein Festtag, und da war nichts zu machen. Wir
fanden keine Träger. Ich habe mich dann kurzerhand entschlossen, an diesem Tag schon
alleine nach meinem Heimatdorf aufzubrechen. Ich konnte jedoch eine Nichte von Ang Dandi
Lama und einen Tibeterjungen aus Phaphlu als Begleiter gewinnen. Die beiden unterhielten
sich fast den ganzen Weg lang über Amerika; eine Schwester des Tibeterjungen namens
Lhakpa war gerade nach vier Jahren aus Amerika zu Besuch gekommen. Wir hatten immerhin
eine Entfernung von ca. 25 km, und das bergauf und bergab mitten durch den Wald auf
unwegsamen Pfaden, vor uns. Aber ich war derartige Wanderungen, die für mich früher zum
Alltag gehört hatten, wohl nicht mehr gewohnt. So hatte ich meine Kräfte doch ein klein
wenig überschätzt. Dennoch raffte ich mich immer wieder auf, ich mußte ja weiter. Und
mir des noch vor mir liegenden Weges bewußt ging ich dann immer schneller und schneller,
quer über kleine Flüsse und über große Felsen hinweg. Ich hatte kaum einen Blick für
die schöne Landschaft, die ich ja aus meiner Jugendzeit so gut kannte, für die herrlich
blühenden Rhododendronbäume und das mannigfache Gezwitscher der Vögel. Ich ging einfach
nur immer weiter. So gelangten wir dann schließlich nach Taljangma. Auch hier erkundigte
ich mich wieder nach dem Befinden meiner Eltern. Doch anders als in Phaphlu teilten mir
hier Bekannte mit, daß mein Vater vor zwei Jahren gestorben war. Das war natürlich ein
großer Schock für mich. Ich fühlte mich ziemlich bedrückt, aber so recht glauben
wollte ich diese Nachricht nicht. Und so eilten wir weiter, meinem Ziel entgegen.
Wiedersehen mit der Familie
Als wir den letzten hohen Paß vor meinem Heimatdorf, den Takshindu-Paß, überquerten,
sah ich, daß die Sonne bald untergehen würde. Ich hatte unterwegs ständig Durst, und so
trank ich an jeder kleinen Quelle am Wegesrand etwas Wasser. Das schmeckte dort im
Himalaya einfach herrlich, natürlich besonders gut, wenn man großen Durst hatte. Ich
wußte aus meiner Kindheit, daß das Wasser dort noch vollkommen rein war, daß es noch
nicht verschmutzt war durch die Menschen. Als Folge meines vielen Trinkens mußte ich dann
bei meinem anstrengenden Fußmarsch auch tüchtig schwitzen. Am Kloster jenseits des
Takshindu-Passes angekommen traf ich ein paar Nonnen. Eine von ihnen spann gerade Wolle.
Ich sah sie an, sie sah mich ebenfalls an. Ich hatte großen Hunger und wollte sie daher
bitten, mir etwas zu essen zu geben. Aber da dachte ich bei mir: "Diese Frauengestalt
kennst du doch!" Doch ich bekam kein Wort über die Lippen. Wir starrten uns
gegenseitig an und dachten wohl beide, daß wir uns irgendwie kennen mußten. Da kam mir
plötzlich in den Sinn, daß diese Frau vor mir vielleicht meine Tante, die jüngere
Schwester meines Vaters, wäre. Ich nannte ihren Namen, und siehe da, sie war es. Sie
streckte mir ihre Zunge zum Zeichen des Erstaunens heraus, zog mich in ihre Arme und
drückte mich an ihr Herz. Sie freute sich sehr, mich endlich wiederzusehen, hatten wir
früher doch so viele Dinge gemeinsam unternommen. Doch dann hatte sie weniger gute
Nachrichten für mich. Opa und Oma, ihre Eltern, waren gestorben. Darüber war sie noch
sehr traurig. Sie bestätigte auch, daß mein Vater gestorben war. Nun war es also gewiß.
Das alles zu hören, war natürlich weniger erfreulich für mich. Doch ich konnte mich
nicht lange dort im Kloster aufhalten. So entschloß sich meine Tante kurzerhand, mich
nach Hause zu begleiten. Unterwegs hatte sie dann unzählige Dinge zu erzählen, die für
mich äußerst wichtig waren, deren Inhalt hier jedoch weniger interessieren dürfte. So
erzählte sie insbesondere auch über ihr Leben als Nonne. In diesem Zusammenhang meinte
sie, ich solle für sie sorgen, sie sei ja nun schon alt.
Die Dämmerung brach schon herein, als wir tief unten in der Schlucht unterhalb meines
Heimatdorfes ankamen. In den tief eingeschnittenen Tälern des Himalaya bricht die
Dunkelheit natürlich besonders früh und abrupt herein. So war es bereits stockfinstere
Nacht, als wir endlich zu Hause ankamen. Als ich zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder
mein Elternhaus betrat, erhaschte mein erster Blick nichts als kleine Kinder. Mindestens
zehn hockten dort in der Stube zusammen. Es waren alles unbekannte Gesichter; niemand war
darunter, der mir im entferntesten bekannt vorkam. Umgekehrt war die Lage natürlich nicht
besser: es war auch niemand darunter, der mich kannte. Da habe ich dann einfach gefragt,
wo Mutter wäre. Ich erhielt zur Antwort, Mutter wäre arbeiten. Dann erkundigte ich mich
danach, was das denn alles für Kinder wären, die sich dort im Haus versammelt hatten. Es
stellte sich heraus, daß es sich unter anderem um zwei kleine Schwestern von mir
handelte, die während meiner Abwesenheit geboren worden waren, sowie um eine weitere
Schwester, die damals, als ich nach Deutschland ging, vielleicht drei Jahre alt gewesen
war. Letztere war mittlerweile auch schon groß geworden und sehr hübsch. Die gesamte
Kinderbande war gerade dabei, das Abendessen zu kochen. Die drei kleinsten, darunter meine
jüngste Schwester und der jüngere Sohn meines Bruders, weinten. Sie waren gerade so
groß, daß sie laufen konnten. Ihr Beitrag zum Kochen ging natürlich nicht weit über
dieses Weinen hinaus. Die etwas größeren jedoch waren eifrig bei der Arbeit. Sie kochten
gerade Kartoffeln und steckten ständig neues Holz in den Ofen.
Ich bin dann mit meiner Tante noch weiter durch das Dorf gegangen, in Richtung auf die
Felder meiner Eltern. Da kamen uns unterwegs im Dunkeln drei Frauen entgegen
bezeichnenderweise alles Witwen, wie sich später herausstellte , nämlich meine
Mutter, eine alte Freundin von mir und eine weitere Frau aus dem Dorf. Fast hätte ich
meine Mutter nicht wiedererkannt. Dann habe ich mich vorgestellt: "Ich bin deine
Tochter Lhakpa!" Für ein paar Sekunden erhielt ich keine Antwort. Sie war wie
erstarrt. Das war so überraschend für sie. Schließlich hatte sie mich nicht erwartet;
ich hatte ja nie Briefe geschrieben. Doch als sie sich wieder etwas gefaßt hatte,
strahlte sie über das ganze Gesicht. Und sie erzählte mir, daß sie vor etwa zwei
Monaten einen Traum gehabt habe, und zwar habe sie geträumt, ich sei nach Hause
zurückgekehrt. Von diesem Traum habe sie auch anderen Leuten erzählt. Das waren ihre
ersten Worte. Sie trug einen riesigen Heuhaufen auf dem Rücken. Ich sagte ihr, sie solle
nicht so schwere Lasten schleppen; sie bekäme wegen ihres Kropfes ja sowieso schon
schlecht Luft. Meine nächstjüngere Schwester, Passi, war noch bei dem Vieh meiner
Mutter. Sie mußte aufpassen, daß nicht nachts ein Leopard oder ein anderes Raubtier kam
und ein Tier riß. Ich erklärte, daß ich auch sie gerne sehen wollte. Und so machte ich
mich mit meiner Tante dorthin auf den Weg. Als ich bei meiner Schwester ankam, sagte ich
zu ihr: "Na, kennst du mich?" "Ja, ja", sagte sie, "ich kenne
dich". Sie trug Jungenkleidung. Ich fragte sie nach dem Grund dafür. Ich erinnerte
mich nämlich an meine Kindheit. Damals war ja auch ich in Jungenkleidung herumgelaufen,
weil mein Vater mich immer als Sohn ausgab. Ich hatte darin ausgesehen wie ein Clown.
Passi trug diese Kleidung jedoch nur wegen der Bequemlichkeit.
Es gibt viel zu erzählen
Wir sind noch am gleichen Abend nach Yawa zurückgegangen oder genauer gesagt
gekrabbelt wegen der Dunkelheit konnte man den Weg nämlich kaum noch erkennen
, und Passi nahmen wir mit. Auf einmal überkam mich die Furcht vor irgendwelchen
wilden Tieren, die uns hier in der Dunkelheit anfallen könnten, Leoparden, Schlangen,
Bären usw. In meiner Kindheit mochte ich vielleicht abergläubig gewesen sein, aber Angst
vor der Natur hatte ich nie gekannt. Nun hatte ich vielleicht einiges von dem Aberglauben
abgelegt, dafür aber überfiel mich die Angst vor wilden Tieren und ähnlichen Gefahren.
Das mag seltsam klingen, spricht aber für sich. Ich schätze, daß der Aberglauben, der
vielen Angehörigen meines Volkes nachgesagt wird, die Furcht vor den Gefahren der Natur
weitgehend im Keime erstickt. Dazu gehört nicht nur die Angst vor wilden Tieren, sondern
auch die vor Krankheiten, Bakterien und dergleichen. Nun brauchte nur ein Frosch zu
quaken, schon schoß mir der Schreck in die Glieder. Ich dachte immer sogleich, es könnte
ein Leopard sein. Aber wir sind dann schließlich doch heil und unbelästigt wieder im
Dorf angekommen. Dort hatte sich mittlerweile fast die gesamte Verwandtschaft in unserem
Haus versammelt. Ich wußte nicht so recht, wie ich mich mit all den Verwandten und
Bekannten unterhalten sollte, denn ich war anfangs ein wenig gehemmt. Ich hatte das
Gefühl, meine Muttersprache, die Sherpa-Sprache, etwas vergessen zu haben. Aber
vielleicht lag das daran, daß sich mein Alltagssprachschatz gewandelt und erweitert
hatte, so daß mir nun oft die passenden Sherpa-Worte fehlten. Sieben Jahre waren ja
schließlich eine sehr lange Zeit. Ich war gerade gut der Kindheit entwachsen, als ich die
Heimat verlassen hatte, und in der ganzen Zeit hatte ich kein einziges Mal die
Gelegenheit, mit irgendjemandem ein paar Worte in meiner Muttersprache zu wechseln. Daher
versuchte ich nun meistens, Nepali zu sprechen. Diese Sprache war mir etwas geläufiger.
Schließlich hatte ich in Kathmandu eine Woche Zeit gehabt, mich wieder an sie zu
gewöhnen. Vor allem aber muß ich zugeben, daß ich auch schon in meiner Kindheit lieber
Nepali als die Sherpa-Sprache gesprochen habe.
Die Leute waren sehr neugierig. Sie wollten viel darüber erfahren, wie es in Europa
aussähe, wie dort das Leben wäre. Anfangs herrschte überall ein riesiger Jubel, weil
ich zurückgekommen war. Man betrachtete es geradezu als ein Wunder. Man hatte schon
gedacht, ich wäre gestorben oder umgebracht worden. Die meisten Mädchen, die Familie und
Dorf verlassen und sich nach Indien begeben hatten, waren nie wieder zurückgekehrt. Sie
waren vermutlich längst dort verheiratet oder verstorben. Es wurden Witze gerissen und
sehr viel erzählt. Alle Frauen wollten von mir über Empfängnisverhütung informiert
werden. Ich entgegnete, daß ich darüber nicht näher Bescheid wisse, ich sei
schließlich kein Arzt. Andere wiederum fanden es schön, daß meine Hautfarbe etwas
heller geworden war; daß ich so dünn war, das konnte die Leute weniger begeistern. Nach
ihrer Meinung waren Körperfülle und helle Haut ein weibliches Schönheitsideal.
Und dann kam die erste Nacht, die ich wieder zu Hause verbringen sollte. Es war für
mich schon eine gewaltige Umstellung, mich jetzt wieder an diese einfache Schlafstätte zu
gewöhnen. Auf dem Boden wurde ein großes Kuhfell ausgebreitet, darauf legten wir
das waren insgesamt neun Mädchen uns und deckten uns mit einer einzigen großen
Decke zu. Anfangs ekelte ich mich etwas vor dem Schmutz. Vor allem hatte ich Angst, ich
könnte dort auf dem Boden zwischen den anderen Mädchen Läuse bekommen. Irgendwann um
Mitternacht hat dann zu allem Überfluß auch noch eine meiner kleinen Schwestern
gepinkelt, so daß das ganze Kuhfell naß war. Die anderen Leute hockten noch stundenlang
um das Feuer herum, unterhielten sich und tranken chang. Ich konnte natürlich
nicht sagen, sie sollten still sein, das wäre ja unhöflich gewesen. Daher war für mich
an Schlaf nicht zu denken, obwohl ich diesen nach dem anstrengenden Tag besonders dringend
gebraucht hätte. So lauschte ich gezwungenermaßen noch lange den Erzählungen. Von Zeit
zu Zeit kochten sich die Leute noch etwas zu essen auf dem Feuer. Die Fenster waren wegen
der Kälte mit Papier, Stroh oder Flechtwerk zugestopft Fensterscheiben gab es
damals im Gebirge noch nicht. Die Tür war ebenfalls fest verschlossen. Kamine waren in
Sherpa-Häusern fremd. Somit war es klar, daß sich der ganze Rauch des Feuers in dem
kleinen Raum ansammelte. Da diese Situation für alle Sherpa-Häuser gleich zutreffend
war, leuchtete es mir ein, warum die Sherpa fast ständig unter Augenentzündungen zu
leiden hatten. Besonders hart getroffen schien mein älterer Bruder zu sein. Seine Augen
waren dick rot angeschwollen, so daß er kaum noch sehen konnte. Ich forderte ihn daher
auf, er solle doch nicht auch noch zusätzlich rauchen. Das sei für seine Augen sicher
nicht gut. Aus Höflichkeit hörte er dann damit auf, aber sobald ich ihm den Rücken
zukehrte, qualmte er eifrig weiter.
Passi wollte noch des nachts wieder zurück zu den Tieren auf die Weide gehen, um sie
vor wilden Tieren zu schützen. Aber ich sagte ihr, sie solle nicht gehen. Wenn ein
Leopard käme und ein Tier risse, so würde ich dasselbe bezahlen. Passi blieb dann auch
tatsächlich im Dorf und sagte: "Ich habe ja eine reiche Schwester!"
Ungekannte Konditionsmängel
Am folgenden Morgen brachen wir ganz früh auf. Ich schätze, es wird noch vor sechs
Uhr gewesen sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher, da ich trotz der langen Zeit in
Europa keine Uhr bei mir hatte. Es wurde jedenfalls gerade hell, als wir aufstanden. Zum
Frühstück machten wir uns Bohnen warm. Das dauerte eine Ewigkeit Das Holz war nämlich
sehr feucht und wollte nicht brennen. Da kletterte ich einfach auf das Dach und holte von
dort ein Stück trockenes Holz, damit es etwas schneller ging. In der Stube sammelte sich
schon wieder eine ganze Menge Rauchschwaden an, so daß die Augen brannten. Daher
kletterte ich kurzerhand erneut auf das Dach und schob einfach ein paar Bretter zusammen,
mit denen das Dach gedeckt war, wodurch im Dach ein großes Loch entstand. So konnte der
Rauch schön nach oben abziehen. Ich war mir natürlich bewußt, daß dies keine
Dauerlösung sein konnte, vor allem dann nicht, wenn es regnete. Aber für den Augenblick
schien es mir sehr angebracht. Man konnte den Rauch in der Wohnung nämlich kaum noch
ertragen. Deshalb hatte ich eine solche Wut und ließ mich zu dieser Handlung hinreißen.
Dann war endlich der Hunger gestillt, und wir konnten uns auf den Weg machen. Ich hatte
nun ein paar starke Begleiter gefunden, zwei bis drei Vettern, einen Onkel und meinen
älteren Bruder. Mein jüngerer Bruder, zu dem ich in der Kindheit und Jugend eine
besonders enge Beziehung gehabt hatte, war leider in Indien beim Militär; ich sollte ihn
erst vier Jahre später wiedersehen.
So brachen wir auf. Es gesellte sich schließlich noch der eine oder andere hinzu, so
daß ich letztlich acht Begleiter hatte, die helfen wollten, das Gepäck zu tragen. Als
wir dann endlich oben auf der Paßhöhe ankamen, hatten wir bereits einen Marsch von über
drei Stunden hinter uns, waren von 2500 m auf etwa 2000 m hinab- und dann wieder auf 3100
m hinaufgestiegen. Ich fühlte mich bereits jetzt unwahrscheinlich müde, und mir wurde
immer bewußter, daß ich die harten Lebensbedingungen in meiner Heimat nicht mehr gewohnt
war. Die langen Jahre in Europa hatten mich doch offensichtlich sehr verweichlicht. Hinter
dem Paß war der Weg dann wieder etwas angenehmer. Bereits in Taljangma trafen wir auf
meine drei deutschen Begleiter, die ich in Phaphlu zurückgelassen hatte. Sie wurden von
zwei Jungen geführt, die ein paar Worte Englisch sprachen. Wir konnten uns jedoch nicht
lange bei ihnen aufhalten, gingen weiter nach Phaphlu, um das Gepäck zu holen. Wir
schafften bis zum Abend den Weg auch wieder zurück bis Ringmo.
Bei mir machten sich jetzt neben meiner Müdigkeit zu allem Überfluß auch noch
Halsschmerzen bemerkbar. Sie steigerten sich allmählich ins Unerträgliche. Wir hatten
eine Flasche selbstgebrannten Schnaps, arak, dabei. Ein paar Schlucke daraus
konnten die Schmerzen aber nur geringfügig lindern. Ich gab auch den Trägern etwas ab;
schließlich hatten sie ja schwere Lasten zu schleppen. Das hatte sie aber nicht daran
gehindert, während des ganzen Weges ununterbrochen ihre Lieder zu singen. Meist waren es
lustige Lieder über Sonne, Sterne, Mond, den Schatten der Bäume, über den Weg der
Wolken am Himmel usw.. Ich erinnere mich insbesondere noch an ein Lied, das folgenden
Inhalt hatte: Eine Frau hat einen Liebhaber, und dieser Liebhaber kommt immer dann, wenn
der Ehemann gerade nicht zu Hause ist. Eines Tages aber kam er an, als der Ehemann noch im
Haus war. Da hat die Frau gesungen: "Kindesvater ist zu Hause." Und dabei
spielte sie mit dem Kind. Sie sang weiter: "In den Brennesseln ist Schnaps." Er
solle denselben trinken und wieder nach Hause gehen.
In Ringmo übernachteten wir auf einem ganz einfachen Holzbrett. Wir hatten schlecht
organisiert, und so hatten wir noch nicht einmal ein paar Decken mitgenommen, um uns
zuzudecken. Meine Verwandten stellten sich etwas geschickter an. Ihnen waren die
Holzbretter zu hart zum Schlafen. Deshalb legten sie sich ins Heu. Das hätte ich besser
auch tun sollen, dann hätte ich in der Nacht nämlich nicht so gefroren. So hatte ich nur
die Kleidung, die ich auf dem Leibe trug, und das war nicht gerade viel in einer kühlen
Himalaya-Nacht. Gegen Mitternacht spürte ich schon, wie meine Halsschmerzen immer
schlimmer und schlimmer wurden. Schließlich bekam ich auch noch eine Magen- und
Darmverstimmung dazu. Vor der Abreise am nächsten Morgen ging es dann noch ans Bezahlen.
Da waren die Wirtsleute jedoch nicht sonderlich kleinlich, sondern verlangten einen
unwahrscheinlich hohen Preis. Gegenüber Europäern oder Amerikanern war das so üblich.
Und da wir uns in Begleitung von drei Deutschen befanden, fielen auch wir unter den
Begriff Europäer und hatten somit den gleichen Wucherpreis zu zahlen wie diese. Für das
Essen und Trinken unserer ganzen Mannschaft verlangten sie sage und schreibe 100 Rupien
von uns. Da mußte ich daran denken, daß wir früher nicht einmal drei oder vier Rupien
besessen hatten, um unsere Steuern zu bezahlen. An diesem Tag liefen wir nur bis zum
Kloster jenseits des Passes. Weil sich meine Krankheit derart verschlechtert hatte,
wollten wir dort bei meiner Tante zweimal übernachten.
Mir war mittlerweile so elend, daß ich am liebsten geheult hätte. Es kündigte sich
nun auch noch ein Wetterumsturz an. Mit dem schönen Ausblick der vergangenen Tage war es
vorbei. Sämtliche Berggipfel verkrochen sich hinter dichten Wolkenmassen, und auch in den
Tälern machte sich allmählich Nebel bemerkbar. Kurz vor Takshindu begegneten wir einem
buddhistischen Mönch, der gerade zusammen mit einer Schar von Helfern damit beschäftigt
war, einen chorten (stupa) mittlerer Größe, der hier am Weg stand, zu
restaurieren. Wir kamen mit ihm ins Gespräch, und er bot uns an, in seinem Haus zu
übernachten. Dieses Angebot nahmen wir recht gerne an. Für Essen und Trinken sollte
ebenfalls gesorgt sein. Doch dieses freundschaftliche Verhältnis wurde etwas getrübt,
als der Mönch sah, daß zwei meiner deutschen Reisebegleiter rauchten. Dies war nach
Ansicht des Mönches in dem Zimmer, in dem sich sein Hausaltar befand, einfach undenkbar.
Er sah es geradezu als eine Beleidigung der Götter an. Selbstverständlich könnten wir
bei ihm wohnen bleiben, geraucht werden dürfe jedoch nicht. Damit waren allerdings meine
Begleiter nicht einverstanden, so daß wir uns nach einem anderen Quartier umsehen
mußten. Wir hätten natürlich auch im Haus meiner Tante übernachten können, doch
standen wir dort vor dem gleichen Problem. Sie bot uns zwar an, im Erdgeschoß zu
übernachten, doch war das bei der vorherrschenden Witterung ein wenig zu kalt. Überall
waren die Schwierigkeiten dieselben. Schließlich fanden wir Unterkunft bei zwei alten
Leuten. Sie hatten sich ganz zurückgezogen und füllten die letzten Tage ihres wie
man an den zerfurchten Gesichtern sehen konnte sicherlich nicht leichten Lebens mit
ständigem Gebet aus. Sie hatten zwar auch einen kleinen Hausaltar, hatten jedoch nichts
gegen das Rauchen einzuwenden. Die beiden Alten waren sehr fromm, sie waren aber nicht
Mönch oder Nonne. So übten sie neben ihrem Beten auch noch andere Tätigkeiten aus. In
den Händen der Frau ruhte die ganze Hausarbeit, während er sein Tagewerk mit
Gartenarbeit, Holzhacken und dem Ausbessern der Dorfstraßen ausfüllte. Letzteres hat
übrigens einen weitergehenden Sinn. Nach buddhistischer Auffassung erwirbt sich der so
Handelnde Verdienste für seine zukünftige Wiedergeburt.
Mit meiner Krankheit wurde es überdies immer schlimmer. Mir war ganz schwindlig im
Kopf. Außerdem tat mir der Hals so weh, daß ich kein Wort mehr reden konnte. Die einzige
Möglichkeit, mich noch den anderen gegenüber verständlich zu machen, waren
Fingerzeichen. Ein ganz besonderer Nachteil war dieser Umstand für die mit mir reisenden
Deutschen, da sie kein Wort Sherpa-Sprache oder Nepali verstanden. Aber wenn die
Halsschmerzen auch noch so stark waren, so konnten sie mich doch nicht davon abhalten,
alle möglichen äußerst scharf gewürzten Speisen zu essen, z.B. trockenes Fleisch und
Mehlklumpen. Nach zwei Tagen kam dann mein Onkel, der minung (Schamane), um die
bösen Geister aus meinem Körper zu vertreiben. Ich mußte während seiner Zeremonie
beten. Und so unglaublich es für europäische Ohren auch klingen mag, ich bin danach
wieder gesund geworden. Es ist natürlich auch möglich, daß das Penicillin, das ich
zuvor genommen hatte, endlich und zuletzt doch noch gewirkt hat, vielleicht aber auch nur
mit Hilfe meines Onkels Chechang Che.
Anschließend haben wir uns dann trotz meiner starken Erkrankung wieder auf den Weg
gemacht. So ging es dann von Takshindu bergab in Richtung Chulemo. Während der gesamten
Wegstrecke wurde ich von meinem Bruder bzw. von meinen Vettern getragen. Sobald wir jedoch
in die Nähe einer Ortschaft kamen, mußte ich auf eigenen Füßen laufen, da sich meine
Verwandten sonst zu sehr schämten. In Chulemo wohnte die älteste Schwester meiner
Mutter, die bereits tagszuvor vor Freude geweint hatte, als sie mich sah. In ihrem Haus
bekamen wir Milch, gebackenen jungen Mais und gebratenen Salat. Da meine Tante den Kamin
nie sauber gemacht hatte, klebte eine dicke Rußschicht an den Wänden, und davon war beim
Kochen einiges in den Topf gefallen, so daß eine richtige Brühe entstand. Früher, in
meiner Kindheit, war das auch nie besser gewesen, aber da hatte ich die Milch immer so
getrunken, ohne Anstoß daran zu nehmen. Jetzt fiel mir sofort auf, daß so viel Schmutz
darin war. Wir haben die Milch aber trotzdem getrunken.
Im Dorf
Wir machten uns dann jedoch sehr bald wieder auf den Weg. Sobald wir die Ortschaft
hinter uns gelassen hatten, wurde ich von den Anverwandten wieder getragen. Endlich kamen
wir im Tal an. Nachdem wir die Brücke des Yawa Tsangbu überquert hatten, machten wir
Rast. Der Fluß floß hier mit starkem Getöse zu Tal. Doch unsere Rast sollte nicht sehr
lange dauern; bald ging es wieder weiter auf die schon beschriebene Weise, diesmal jedoch
bergauf. Als wir uns dann endlich Yawa näherten, stand am Wegrand eine Tante von mir mit chang
und tanzte wie bei einer Hochzeit. Man bezeichnet das als yangdzi
(Begrüßungstrunk). Oben im Dorf wartete schon eine ganze Horde Menschen auf uns. Es
hatte sich allmählich in der Umgebung herumgesprochen, daß Lhakpa wieder nach Hause
zurückgekehrt war.
Als erstes wurden nun die Sachen verteilt, die ich aus Europa mitgebracht hatte. Es
handelte sich dabei in der Hauptsache um gebrauchte Kleidungsstücke; jeder bekam etwas
zum Anziehen. Natürlich war längst nicht alles aus Europa. Das war schon allein wegen
der Gewichtsbestimmungen des Gepäcks im Flugverkehr nicht möglich, obgleich auch die mit
mir reisenden Deutschen Sachen von mir in ihrem Gepäck verstaut hatten. Aber ich hatte
dann auch noch eine ganze Menge Kleidungsstücke in Kathmandu gekauft: Hosen, Jacken,
Röcke, alles Dinge, die man hier im Gebirge gut gebrauchen konnte. Ich merkte auf einmal,
daß die übrigen Verwandten ziemlich böse und verärgert wurden, weil sie nichts
bekamen, sondern nur meine Eltern und Geschwister. Ich habe dann einfach so getan, als
würde ich nichts verstehen. Es wäre absolut unmöglich gewesen, diesen Leuten die
Gründe für mein Verhalten, für die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Wünsche, zu
erklären.
Wir blieben die folgenden beiden Tage in Yawa. Gesundheitlich ging es mir nun von Tag
zu Tag auch wieder merklich besser. Das Penicillin und mein Onkel, der minung,
hatten geradezu Wunder bewirkt. Außer der Kleidung hatte ich auch die verschiedensten
Pflanzensamen aus Europa mitgebracht, in der Hauptsache Salat, Möhren und allerlei
Kohlsorten. Diese Samen verteilte ich unter den Leuten, und wie ich später von meiner
Schwester Passi erfahren sollte, waren diese Samen gut angewachsen und prächtig gediehen.
Ich war innerlich richtig stolz, auf diese Weise etwas zur Bereicherung der Gemüsesorten
in meinem Heimatdorf beigetragen zu haben.
An den Abenden, an denen ich in Yawa war, gab es natürlich Unmengen zu erzählen. Die
Leute gingen daher bis spät in die Nacht hinein nicht nach Hause. Mein Bruder Gyaltsen,
der handwerklich recht gut begabt ist, hatte aus ein paar Brettern drei schmale
Bettstellen gezimmert, auf denen wir schlafen konnten. Auf dem Boden wurde überall Heu
ausgestreut, so daß der ganze Raum noch etwas wärmer wurde. Eigentlich war dieser Raum
der Wohnraum meines älteren Bruders und seiner Frau. Da diese jedoch monatelang auf den
Sommerweiden oben im Gebirge gewesen waren, hatte man hier drei Ziegen untergebracht,
damit diese des Nachts nicht von Leoparden gerissen werden konnten. Es war natürlich
klar, daß der Raum nun sehr stark nach Ziegen stank. So wurde der Ziegenstall zu unserem
Quartier, in dem die Deutschen und ich übernachteten. Das war sehr vorteilhaft für uns,
da dieser Raum durch eine Trennwand vom Wohnraum meiner Mutter getrennt war, wo die engere
und weitere Verwandtschaft die ganze Nacht über zusammensaß und sich mehr oder weniger
laut unterhielt. Wir jedoch konnten derweil in Ruhe schlafen. Die Mauern des Zimmers waren
ungewohnt kalt und kahl. Von nebenan drang manchmal Gesang zu uns herüber. Wir bekamen
auch von Zeit zu Zeit etwas zu essen, meist Pellkartoffeln. Nachts bin ich wegen
Magenschwierigkeiten ein paarmal vor die Tür gegangen. Während der Nacht hörte ich
einige Male das Geschrei von kleinen Kindern. Als sich dann schließlich der Morgen
näherte, wurde nach und nach die ganze Tierwelt wach. Hunde bellten, Hähne krähten,
Hühner gackerten; für meine empfindsam gewordenen Ohren war das alles ein riesiger
Krach.
Ich bin schließlich aufgestanden und zur Quelle hinuntergegangen, um mich zu waschen.
Damit waren meine Verwandten jedoch nicht ganz einverstanden. Sie sagten, ich würde auf
diese Weise die Quelle verschmutzen. Die lu, die Wassergeister, wären dann
verärgert, und mir würden alle möglichen Krankheiten drohen. Früher war mir das alles
geläufig gewesen, aber ich hatte mittlerweile so viel vergessen ... . Ich durfte mich
jedenfalls nicht an der Quelle waschen, sondern lediglich Wasser mit einem Eimer holen und
mich abseits der Quelle reinigen. Dazu war ich natürlich etwas zu faul und habe mir daher
nur das Gesicht gewaschen. Das Endergebnis war, daß ich mich vierzehn Tage lang
überhaupt nicht gewaschen habe. Für europäische Ohren mag das unglaublich klingen, die
einheimischen Sherpa jedoch legen nicht so viel Wert auf diese äußere Reinheit. Ich
wusch mir lediglich das Gesicht und spülte den Mund kurz aus das war alles. Mein
Verhalten war also in diesem Punkt wieder genauso wie früher in meiner Kindheit.
Es wurde auch am nächsten Tag wieder viel erzählt. Eines der Hauptthemen war der
grausame Tod meines Vaters. In jenem Jahr war die Ernte sehr schlecht gewesen. Es
herrschte große Trockenheit. Und da es nicht so viel zu essen gab, war alles sehr teuer.
Da es aber nun einmal üblich war, beim Ableben ein kostspieliges Totenfest zu
veranstalten, hatte meine Mutter eine Menge Schulden machen müssen, teilweise bei meinen
Onkeln, teilweise aber auch bei einem reichen Mönch von Takshindu. Diese Schulden hatte
sie immer noch nicht zurückzahlen können. Daher habe ich alles Geld, das ich bei mir
hatte, dagelassen. Das einzige, was ich noch besaß, war sozusagen das, was ich auf dem
Körper trug, Pullover, Hose, Schuhe, Schlafanzug und Anorak. Ansonsten ließ ich alles
dort zu Hause. Die Heimreise konnte ich mit leeren Koffern antreten. Dennoch übte Mutter
weiterhin einen sehr großen Druck auf mich aus und wollte immer noch mehr von mir haben.
Meine ganz kleine Schwester, Dali, war besonders süß. Sie fragte dauernd: "Wann
geht die fremde Frau wieder weg?" Sie wollte ständig mit dem Portemonnaie spielen;
das Geld selbst interessierte sie nicht.
Eine Bekannte kam mit ihrem Kind angeschleppt. Dieses war über und über mit Pocken
bedeckt und weinte ständig. Wir haben Salbe auf die Pocken getan und einen Verband
angelegt. Es kamen natürlich auch noch viele andere Leute, die alle irgendwelche
Medikamente haben wollten. Sie erzählten dann, zu Hause hätten Mutter, Vater, Frau,
Schwester, Kinder oder wer weiß ich diese oder jene Schmerzen oder Beschwerden. Andere
wiederum klagten über irgendwelche Krankheiten ihrer Tiere, z.B. daß eine ihrer Kühe
irgendeine Augenkrankheit habe usw. Meine deutschen Reisebegleiter hatten jedenfalls
genügend Gelegenheit, sich recht erfolgreich als Krankenpfleger und dergleichen zu
betätigen. Das war natürlich eine gute Möglichkeit für sie, die Herzen der Leute zu
gewinnen.
Erneuter Abschied
Als dann schließlich die Zeit für den Abschied kam, bat meine Mutter, ich solle doch
noch wenigstens einen Tag länger bleiben. Aber das war natürlich unmöglich, da wir
sonst das Flugzeug verpaßt hätten. So bin ich gegangen, wie ich gekommen war. Das
schöne Wetter war nun auch endgültig vorbei. Es breitete sich immer mehr Nebel aus. Wir
gingen auf dem gleichen Wege zurück, den wir auch als Hinweg benutzt hatten. Meine innere
Stimmung war nun natürlich etwas seltsam. Ich kann sie gar nicht so recht beschreiben.
Meine Gedanken drehten sich wie im Kreise. All die vielen Ereignisse der letzten Tage, die
Freude des Wiedersehens, meine Krankheit, der schnelle Abschied, das alles ließ sich
nicht in wenigen Minuten verarbeiten. Ich brauchte schon etwas mehr Zeit dazu. So befand
ich mich mit gemischten Gefühlen auf dem Rückweg. Die meist nebelverhüllte Umgebung
nahm ich nur so nebenbei, fast im Unterbewußtsein, wahr. Nur manchmal wurde ich in die
Gegenwart zurückgerufen, beispielsweise durch das schrille Kreischen der Affenherde, der
wir unten im Tal begegneten. Mit Mühe und Anstrengung ging es dann wieder hinauf zum
Takshindu-Paß. Unterwegs kauften wir etwas chang. In Chulemo aßen wir bei
Verwandten ein paar Kartoffeln. Gegen Abend gelangten wir dann wieder in Takshindu an.
Hier befanden wir uns mitten in den dichtetsten Wolkenschichten. Es war so neblig, daß
wir keinen Meter weit sehen konnten. Die ganze Welt schien im Dunst zu ersticken. Wir
haben dort in Takshindu übernachtet. Ich habe zusammen mit meiner Schwester Passi auf
einer Lagerstatt geschlafen. Sie und unser Bruder Gyaltsen begleiteten uns nämlich bis
zum Flughafen in Phaphlu. Bezüglich der Mönche und Nonnen in Takshindu hatte ich den
Eindruck, daß sie neuerdings überhaupt nicht mehr beteten. Sie arbeiteten fast
ununterbrochen. Wenn ich mich so an meine Kindheit erinnere, so meine ich, daß die
Mönche und Nonnen damals das Arbeiten ganz klein schrieben und den Tag fast
ausschließlich im Gebet verbrachten. Jetzt aber gab es nur noch wenige, die den ganzen
Tag über beteten oder einige Jungen unterrichteten. Zu diesen wenigen frommen Menschen
gehörten auch die beiden alten Leute, bei denen wir wieder übernachteten. Diese saßen
wirklich fast den ganzen Tag da, mit dem Rosenkranz in der Hand im Gebet versunken. Jede
zweite Minute murmelten sie ihr "Om Mani Padme Hum". Es stellte sich jetzt
heraus, daß auch die alte Frau gesundheitliche Probleme hatte; sie litt unter Würmern
und mußte sich häufig übergeben.
Wir haben auch meiner Tante die Schulden gezahlt für alles, was wir verzehrt hatten.
Sie und die Nonne, mit der sie zusammenlebte, wollten beide unbedingt mit uns nach Europa
kommen. Sie sagten: "Ach, wenn morgen das Flugzeug kommt, dann könnt ihr uns doch
mitnehmen." Wir hatten ziemliche Mühe, ihnen diesen Gedanken auszutreiben. Am
nächsten Tag ging es dann weiter nach Phaphlu. Dort übernachteten wir im Haus von Ang
Geli Lama. Er war ziemlich reich und hatte mehrere Diener in seinem Haus beschäftigt.
Auch während unseres Aufenthalts in Phaphlu war das Wetter sehr schlecht. Es zeigten
sich einfach keine Anzeichen für eine Wetterbesserung. Und am nächsten Tag sollte doch
bereits das Flugzeug aus Kathmandu kommen und uns abholen. So standen wir den ganzen Tag
über am Rande des kleinen Landeplatzes im kalten Wind und Regen und froren und
schnatterten. Aber für den Piloten war es natürlich unmöglich, bei diesen schlechten
Witterungsverhältnissen den Weg durch die engen Gebirgstäler des Himalaya zu finden.
Gegen Abend sind wir dann wieder ins Dorf zurückgegangen, weil wir uns sagten, daß jetzt
doch kein Flugzeug mehr käme. Wir übernachteten dort nun bei Kancha Bahadur Lama und
seiner Frau. Zwei ihrer Söhne waren nach Tibet gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
Ein dritter Sohn wohnte in Kathmandu. Damit die alten Leute nicht so einsam waren, hatten
sie einen Enkel und eine Enkelin, zwei Kinder ihrer Tochter, bei sich aufgenommen. Opa und
Oma waren mit den Enkelkindern alleine zu Hause. Auch diese alten Leute waren sehr fromm.
Wir kauften ein paar Kartoffeln von ihnen. Nach dem Essen haben meine Geschwister und ich
etwas gesungen. Bald stimmten auch die Bewohner des Hauses mit ein. Wir waren nicht die
einzigen Gäste. Es befanden sich auch noch ein paar junge Italiener dort. Diese ganze
Menschenmenge legte sich dann später kreuz und quer im Zimmer zum Schlafen nieder.
Erfreulich an diesem Haus war, daß sich die Leute eine Wasserleitung bis vor die
Haustüre gelegt hatten, was damals im Gebirge noch äußerst selten war.
Am nächsten Morgen sind wir gleich wieder hinauf zum Flugfeld gelaufen. Heute war das
Wetter etwas besser, und wir brauchten nicht sehr lange zu warten. Nach ein paar Minuten
tauchte das Flugzeug auf. Meine Schwester sagte zu mir, ich solle aber ganz bestimmt
wiederkommen. Sie umklammerte mich ganz fest, als das Flugzeug kam, ganz entgegen aller
Sherpa-Sitten. Ich mußte schnell einsteigen. Der Pilot war sehr unfreundlich. Wir
dachten, er würde uns alle mitnehmen, doch da hatten wir uns geirrt; er wollte nur die
beiden Frauen mitnehmen, meine deutsche Begleiterin und mich. Da wollte ich dann lieber
noch etwas bei meinen Geschwistern bleiben, weil wir ja doch nicht alle mitfliegen
konnten, aber der Entschluß des Piloten stand unumstößlich fest. Unser Flug sollte ganz
abenteuerlich werden. Als wir starteten, konnte man überhaupt nichts mehr sehen. Nun war
der Nebel, der in den frühen Morgenstunden etwas lichter geworden war, wieder ganz dicht.
Der Pilot startete sozusagen blind. Sämtliche Versuche, eine Funkverbindung mit Kathmandu
herzustellen, blieben vergeblich. Dem Pilot war sichtlich anzumerken, daß es ihm
überhaupt nicht paßte, bei diesem Wetter zu fliegen. Er machte aus seinem Ärger kein
Hehl und war im Gegensatz zum Kopiloten uns gegenüber sehr unfreundlich. Der Flug ging
immer die Täler entlang. Ich dachte die ganze Zeit über, daß dies sicherlich die letzte
Stunde meines Lebens sein würde. Jeden Augenblick konnte es einen großen Knall geben und
die kleine Maschine irgendwo an einem Felsen zerschellen. Immer folgte der Pilot dem
Flußlauf unten im Tale. Ich dachte schon, daß jetzt bald doch das Benzin ausgehen
müßte. Doch schließlich landeten wir dennoch heil und unversehrt auf dem Flughafen in
Kathmandu. Unten im Flußtal war nicht so viel Nebel gewesen wie oben hoch in der Luft. So
konnte man gerade noch den Fluß unten erkennen. Diesem Umstand hatten wir es vermutlich
zu verdanken, daß der Flug dennoch gut verlaufen war. Am nächsten Tag hat dann eine
schweizer Maschine auf unser mehrmaliges Drängen hin auch die beiden anderen Deutschen in
Phaphlu abgeholt.
Pokhara
Von Kathmandu aus machten wir in den nächsten Tagen einen Ausflug nach Pokhara. Dieser
Flug ähnelte sehr dem Hinflug vor ein paar Tagen nach Yawa. Ich wurde jedenfalls von dem
gleichen inneren Heimatgefühl befallen wie auf jenem Flug. Mir fiel auf, daß alle
Stewardessen, obgleich es sich um Hindu-Frauen handelte, tibetisch gekleidet waren, und
zwar nach der neuesten tibetischen Mode, was mich ein wenig überraschte. Von unserem
Hotel in Pokhara aus machten wir noch am ersten Abend einen Ausflug zu einer
Tibetersiedlung dort in der Nähe. Überall bimmelten Glöckchen. Die Tibeter mit ihren
langen Zöpfen, die auf dem Kopf zusammengebunden waren, boten ein farbenprächtiges Bild.
An ihren Ohren leuchteten Ohrringe, meist aus Gold und mit Türkisen besetzt. Sie trugen
die traditionelle chuba, das tibetische Männergewand. Ehe wir zur eigentlichen
Tibetersiedlung gelangten, mußten wir noch einen kleinen Fluß überqueren. Die Mönche
des dortigen Klosters waren gerade mit Gebeten und rituellen Handlungen beschäftigt.
Herrlich war es, endlich wieder die altvertrauten Klänge ihrer Musikinstrumente in meinen
Ohren zu hören. Dieser Klang wurde durch die umliegenden steilen Berghänge noch um ein
Vielfaches gesteigert. Viele Tibeter standen unterwegs am Wegesrand und boten uns in
englischer Sprache zahlreiche Dinge zum Kauf an, meist Silberwaren verschiedenster Art
oder handgeküpfte Teppiche. Direkt neben dem Kloster befand sich eine Fabrik. Hier war
eine Reihe Frauen und Mädchen mit Weben beschäftigt. Während der Arbeit sangen sie
religiöse Lieder. Sobald eine ein Lied anstimmte, fielen die anderen sofort wieder mit
ein. Es war der reinste Chorgesang. Wir trafen hier unter den Tibetern aber auch einen
amerikanischen Lehrer mit kahlgeschorenem Kopf. Er lebte seit längerem in Kathmandu und
sprach Nepali wie seine Muttersprache. Er befand sich hier in Pokhara, um auf eigene Faust
ein paar Bergtouren zu unternehmen.
Wir wußten gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollten, so viel Sehenswertes gab es
hier auf einem Fleck, Es war daher nicht verwunderlich, daß wir schließlich von der hier
urplötzlich hereinbrechenden Dunkelheit überrascht wurden. Die Folge war, daß wir uns
in dieser wildfremden Gegend ein wenig veirrten und den richtigen Weg zum Hotel nicht
sogleich fanden. Als wir endlich den Weg über den Fluß zurückgefunden hatten, war es
unten im Tal schon stockfinster, während rundherum die höchsten Berggipfel in den
letzten Strahlen der tiefstehenden Abendsonne glänzten, als wären sie mit einem
Goldmantel überzogen. Die Sherpa nennen so etwas "Bärenmondschein". Es war ein
ergreifender Anblick, der durch die krassen Gegensätze noch hinreißender wirkte. Wir
sind in der Dunkelheit weitergehastet. Kurze Zeit später kam der Mond hinter den
Berggipfeln hervor und beleuchtete wenigstens spärlich unseren Weg. Schließlich gelang
es uns, in einem Haus am Wegesrand den Leuten nach einigem Überreden und für einen Preis
von zehn Rupien die einzige verfügbare Öllampe abzukaufen, so daß die arme Familie
anschließend im Dunkeln saß. Die mehr oder weniger großen Läden am Straßenrand wurden
häufiger, und man kam sich fast vor wie in einem Basar. Hier herrschte noch viel Leben.
So trafen wir auch ein paar junge Leute, die die Universität besucht hatten und leidlich
Englisch sprachen. Sie waren hocherfreut, ihr Wissen an den Mann bzw. an die Frau zu
bringen. Endlich und zuletzt sind wir dann doch heil und gesund, wenn auch vollkommen
erschöpft, in unserem Hotel angekommen.
Am nächsten Tag kam ein hoher chinesischer Beamter zu Besuch nach Pokhara. Sein
Erscheinen sorgte jedoch nur kurz für Aufruhr. Bald nahm das Leben wieder seinen
gewohnten Lauf. Am Abend habe ich mit ein paar Iren, die ich im Hotel kennengelernt hatte,
noch einen kurzen Spaziergang durch das Dorf Pokhara war halt damals noch ein
richtiges Dorf gemacht. Dabei stießen wir auf einem Platz auf ein paar schon recht
angetrunkene Männer. Sie tanzten zum Takt ihrer Trommeln und waren sehr lustig und
ausgelassen und sangen irgendwelche Lieder, wobei es sich meist um Liebeslieder handelte.
Das Dorf Pokhara hat mir damals sehr gut gefallen. Daher war es nicht verwunderlich,
daß ich auch am letzten Tag unseres dortigen Aufenthaltes wieder einen Spaziergang durch
die Ortschaft machte. Unterwegs begegnete ich einer etwas seltsam anmutenden Gruppe. Vier
Männer trugen eine Frau auf einer einfachen selbstgezimmerten Bahre. Sie waren auf diese
Weise schon vier Tage unterwegs. Die Frau schrie und jammerte ununterbrochen. Sie war
schwanger, und es waren Komplikationen eingetreten. Da man Angst hatte, sie müsse
sterben, hatte man sich entschlossen, sie aus dem Gebirge hierher nach Pokhara ins
Hospital zu schaffen. Die Frau klagte ständig über ihre starken Schmerzen. Die Männer
schwitzten unter der schweren Last, die auf ihren Schultern ruhte.
Ein paar Schritte weiter lag ein toter Hund auf der Straße. Dieser hatte einen
Menschen gebissen und war deshalb von den Leuten mit Steinen totgeschlagen worden. Der
Kadaver stank schon abscheulich, doch fand sich niemand, der ihn beiseite geräumt hätte.
Es war niemand zuständig.
Am Abend unterhielt ich mich mit einigen Gurung-Studenten. Sie klagten, daß sie nichts
besäßen außer sich selbst. In der Nähe befand sich das Zeltlager einer Trekkinggruppe.
Ich hörte, daß Mingma, ein alter bekannter aus Khumjung, unter den Sherpa sein sollte,
und ging daher zu diesem Lager. Es standen dort eine Menge Zelte. Ich traf aber nur ein
Mädchen an, das gerade Zwiebeln schälte. Sie sagte, Mingma sei unterwegs auf einer
Bergexpedition. Also ging ich weiter. Am Fluß traf ich ein fröhliches junges Mädchen
mit einem blonden Kind. Ich wunderte mich sehr, daß dieses europäische oder
amerikanische Kind barfuß laufen durfte.
Am nächsten Tag sollte uns ein Flugzeug nach Kathmandu zurückbringen. Am Flughafen
sah ich ein kleines Tibetermädchen, das im sandigen Boden kleine Pilze sammelte. Dann kam
auch schon das Flugzeug. Es war eine größere Maschine, die viele Leute aufnehmen konnte.
Unter diesen Leute waren auch einige mit gebrochenen und geschienten Armen, die sich
gegenseitig mit "Grüß Gott" und "Bonjour" begrüßten. In Kathmandu
blieben wir noch einige Tage; dann ging es über Delhi und Agra zurück nach Europa.
Kolezhu!